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gesinnte Flüchtlinge aus Frankreich verstärkten Revolutionspartei eine provisorische Regierung gebildet, worauf 23. Sept. der Angriff des Prinzen Friedrich der Niederlande [* 2] auf Brüssel [* 3] erfolgte. Nach viertägigem Kampf mußten sich die holländischen Truppen mit bedeutendem Verlust nach Mecheln [* 4] zurückziehen; von den Insurgenten waren etwa 600 gefallen. Nun wurde von einer neuen Regierung, an welcher Rogier, Graf Mérode, van de Weyer, Potter u. a. sich beteiligten, 4. Okt. die Unabhängigkeit Belgiens erklärt.
Diese Erklärung wurde 10. Nov. von dem Nationalkongreß unter de Potters Vorsitz wiederholt, nachdem das schreckliche und nutzlose Bombardement Antwerpens durch den holländischen General Chassé (27. Okt.) den nationalen Haß und die Erbitterung zwischen den Belgiern und Holländern so gesteigert hatte, daß eine Versöhnung nicht mehr möglich war. Das Haus Oranien wurde vom Thron [* 5] ausgeschlossen, aber nicht, wie de Potter beantragte, die Republik proklamiert, sondern auf Antrag des Präsidenten Surlet die Errichtung einer konstitutionellen Monarchie unter einer neuen Dynastie mit 187 gegen 13 Stimmen beschlossen. Die in London [* 6] inzwischen zusammengetretene Konferenz der Vertreter von Österreich, [* 7] Preußen, [* 8] Rußland und England erkannte die Auflösung des Vereinigten [* 9] Königreichs unterm an; dagegen wurden die Bestimmungen der Konferenz in betreff der Grenzregulierung, wonach Holland die Grenzen [* 10] von 1790 erhalten sollte, von Belgien [* 11] nicht angenommen, hierauf von der Konferenz bedeutend modifiziert und als neue Grundlage die sogen. 18 Artikel vereinbart, worin besonders das Verhältnis Belgiens zum Deutschen Bund wegen des von Belgien beanspruchten Luxemburg näher bestimmt war.
Währenddessen hatte der Kongreß zu Brüssel die neue Verfassung vollendet und bis zur Wahl eines Königs Surlet zum provisorischen Regenten ernannt. Nachdem die Kandidatur des Herzogs von Nemours sowie die des Herzogs von Leuchtenberg an dem Widerspruch der Konferenz der Mächte gescheitert war, wurde 4. Juni der Prinz Leopold von Sachsen-Koburg trotz des Protestes des katholischen Klerus mit großer Majorität (mit 142 unter 196 Stimmen) zum König erwählt. Er nahm die Krone an unter der Bedingung, daß die 18 Artikel zu Recht beständen, hielt seinen Einzug in Brüssel und leistete den Eid auf die neue Verfassung; durch seine Vermählung mit einer Tochter Ludwig Philipps sicherte er sich die einflußreichen französischen Sympathien.
Aber noch einmal kam es zu blutigem Konflikt. Holland verwarf die 18 Artikel, von neuem rückten holländische Truppen unter dem Prinzen von Oranien in ein, schlugen und zersprengten die belgischen bei Hasselt u. Löwen [* 12] (August 1831), und erst nach dem Einrücken französischer Hilfstruppen unter dem Marschall Gérard und auf das Andringen der Gesandten Englands und Frankreichs zogen sich die holländischen Truppen wieder über die Grenze zurück. Doch beharrte Holland auch jetzt noch bei seiner Verwerfung der 18 Artikel und lehnte selbst die von der Konferenz 6. Okt. beschlossenen und für endgültig erklärten und von Belgien angenommenen 24 Artikel ab, wonach Luxemburg und Limburg [* 13] unter Holland und Belgien geteilt werden und letzteres jährlich 8,400,000 Fl. als Zinsen seines Anteils an der holländischen Staatsschuld bezahlen sollte.
Diese Renitenz bewog die Konferenz zur Ergreifung von Zwangsmaßregeln gegen Holland: eine englisch-französische Flotte blockierte die Schelde und die holländische Küste, und rückten abermals französische Truppen unter dem Marschall Gérard in ein. Dieselben eroberten nach 24tägiger Belagerung im Dezember die noch von den Holländern besetzte Citadelle von Antwerpen. [* 14] Da Österreich, Preußen und Rußland den Traktat der 24 Artikel noch nicht ratifiziert hatten, so schlossen England, Frankreich und Holland einen Präliminarvertrag ab, welcher auf beiden Seiten den gewaltsamen Maßregeln ein Ende machte.
Aber eine definitive Entscheidung kam auch jetzt noch nicht zu stande, sondern der sogen. Status quo dauerte noch fünf Jahre lang, und währenddessen blieb Holland vorerst im Besitz der die Schelde beherrschenden Forts Lillo und Liefkenhoek; Belgien dagegen behielt Luxemburg, außer der Festung, [* 15] und Limburg. Noch einmal, Ende 1837, kam es zu kriegerischen Rüstungen, [* 16] da Holland auf den Grunewald, der innerhalb des Festungsrayons von Luxemburg lag, Anspruch machte; doch wurde der Streit durch Intervention Englands und Frankreichs beigelegt. So sah sich das Haager Kabinett doch zuletzt zur Annahme der 24 Artikel genötigt. Da nun aber damit die Räumung Limburgs und eines Teils von Luxemburg von seiten Belgiens erfolgen mußte, welche Volk, Kammer und Regierung einmütig verweigerten, so drohte der Krieg noch einmal auszubrechen.
Schon wurden Truppen zusammengezogen und der polnische General Skrzynecki an die Spitze des belgischen Aufgebots gestellt, als wieder das energische Auftreten der Großmächte, welche die immerwährende Neutralität Belgiens garantiert hatten, einen Zusammenstoß verhinderte; aber erst nahmen die belgischen Kammern den 24-Artikel-Vertrag definitiv an. Luxemburg und Limburg wurden danach zwischen und Holland geteilt. Eine für Belgien etwas günstigere Vereinbarung hinsichtlich seines Anteils an der holländischen Staatsschuld kam erst zu stande. So war endlich der äußere Bestand des Königreichs reguliert worden.
Die innere Entwickelung der Verhältnisse in Belgien wurde beherrscht durch den Gegensatz zwischen der liberalen und der klerikalen Partei, welche sich zum Sturz der holländischen Herrschaft vereinigt hatten, von da an aber notwendig in Feindschaft geraten mußten, als beide bei der innern Gesetzgebung namentlich im Unterrichtswesen ihre Prinzipien zur Geltung zu bringen suchten. Der Kampf begann schon unter dem 1834 gebildeten, wesentlich der katholischen Richtung zugeneigten Ministerium de Theux-Muelenaere; die frühere Union löste sich auf, der Klerus ward in der »Revue nationale« heftig angegriffen, so daß es sogar an mehreren Orten zu tumultuarischen Auftritten kam. So mußte das Ministerium im März 1840 seine Entlassung geben und wurde durch das liberale Ministerium Lebeau-Rogier ersetzt, welches ein Amnestiegesetz erließ, aber auch bald genug auf Opposition stieß.
Eine Adresse des Senats an den König vom worin derselbe aufgefordert ward, die zur Beseitigung des Zwiespalts im Schoß der Nationalrepräsentation dienlichen Mittel zu ergreifen, war im wesentlichen ein Mißtrauensvotum gegen das Ministerium, und als der König nicht zur Auflösung der Kammern oder wenigstens des Senats schritt, trat das Ministerium (April) zurück, und ein neues, sogen. gemäßigt liberales, das aber ein Transaktionskabinett im Sinn der alten Union war, wurde durch Nothomb gebildet, 1841 und wieder 1843. Allein der Kampf dauerte fort und äußerte sich bei den Wahlen der Abgeordneten in sehr erregter ¶
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Weise. So gar eine orangistische Verschwörung wurde entdeckt, an deren Spitze die Generale Vandermer und Vandersmissen standen. Von besonderer Wichtigkeit waren unter dem Ministerium Nothomb die am mit Frankreich und mit dem Deutschen Zollverein abgeschlossenen Handels- und Zollverträge, wodurch der belgische Handel bedeutet in Aufschwung kam. Infolge der Wahlen von 1845 trat das Ministerium Nothomb zurück. Nur von kurzem Bestand war das im Juli 1845 berufene liberale Ministerium van de Weyer, das schon im März 1846 durch ein katholisches unter de Theux ersetzt ward, welches aber bereits 1847 wieder einem liberalen Ministerium Rogier weichen mußte.
Damit kam der auf die Mehrheit des Volks sich stützende Liberalismus ans Ruder; freilich war noch manche Schwierigkeit zu überwinden, zumal die Erste Kammer sich widerspenstig zeigte. Indessen leistete die neue Regierung nicht wenig in der Richtung besonnenen freiheitlichen Fortschritts, suchte die Übergriffe des Klerus in würdiger Weise zurückzuweisen und traf Einrichtungen zur Hebung [* 18] der Volksbildung, des Wohlstandes und der kommunalen Autonomie. Das Kabinett war daher im Revolutionsjahr 1848 so fest begründet, daß es ohne Anstoß sich erhielt, und die Dynastie genoß solches Vertrauen, daß der König ohne Bedenken die Beibehaltung seiner Krone von dem Willen des Volks abhängig machen konnte.
Ohne Schwierigkeiten wurden die geforderten Summen für Erhaltung der belgischen Unabhängigkeit und für Militärbedürfnisse verwilligt, und als Ende März 1848 ein Haufe Arbeiter von der französischen Grenze her in Belgien eindrang, um das Land zu revolutionieren, zeigten sich keine Sympathien, und die Eindringlinge wurden ohne Mühe durch die belgischen Truppen zersprengt. Neue Unterstützung fand das Ministerium durch die Wahlen von 1848, wodurch die Opposition auf weniger als ein Dritteil der Stimmen beschränkt ward. So konnte 1850 das Gesetz über den mittlern Unterricht in freiheitlichem Sinn zu ungunsten des Klerus entschieden werden.
Trotz mancher Personalveränderungen und trotz der durch das Militärbudget herbeigeführten Krisis behauptete sich das Ministerium; die Handelsverträge wurden gesichert, die Gewerbesteuer erleichtert, eine Nationalbank gegründet, die Brieftaxe auf die Hälfte herabgesetzt. Auch die Schwierigkeiten, welche der französische Staatsstreich verursachte, und welche namentlich die Behandlung der politischen Flüchtlinge betrafen, wurden durch die besonnene Haltung der Regierung überwunden, obwohl zum Schutz des Landes ein Kredit von 4,700,000 Fr. verlangt und ein verschanztes Lager [* 19] bei Antwerpen errichtet wurde.
Zugleich gelang es, mit dem bis dahin Belgien abgeneigten Rußland in bessere Beziehungen zu treten, weshalb die im belgischen Heer dienenden polnischen Offiziere entlassen wurden. Dennoch sah sich infolge einer Niederlage bei der Wahl des Kammerpräsidenten im September 1852 das Ministerium veranlaßt, abzudanken, und an seine Stelle trat ein gemäßigt liberales, an dessen Spitze Brouckère als Minister des Auswärtigen stand, und welches die kommerziellen Verhältnisse mit Frankreich in befriedigender Weise regelte. Die Annexionsgelüste des neuen französischen Kaisers aus dem Napoleonischen Haus waren König Leopold und der belgischen Regierung wohlbekannt. Sie hüteten sich aber wohl, durch voreiliges Lärmschlagen dieselben herauszufordern und vielleicht ihre Verwirklichung zu beschleunigen.
Nachdem das Kabinett Brouckère infolge einiger an sich unbedeutender Differenzen mit der Kammer im März 1855 zurückgetreten war, berief der König ein gemäßigtes, doch in der Hauptsache der katholischen Partei zugeneigtes Kabinett, in welchem de Decker das Innere, Graf Vilain XIV. das Auswärtige übernahmen. Zwar suchte die neue Regierung den ultramontanen Übergriffen zu begegnen, konnte aber doch nicht das volle Vertrauen der Liberalen gewinnen, obwohl mehrere Abstimmungen zu gunsten des Ministeriums ausfielen und die Kammer sogar das Examengesetz genehmigte, welches die Maturitätsprüfung für die Universitäten abschaffte und in seinen Konsequenzen dem klerikalen Unterrichtswesen zu großem Vorteil gereichte.
Nach außen bewahrte das Kabinett eine feste Haltung und wies namentlich die nicht undeutlichen Absichten der französischen Regierung, in Belgien eine Beschränkung der Preßfreiheit durchzusetzen, mit aller Entschiedenheit zurück. So zeigten sich denn auch die Sympathien für König Leopold in hohem Maß bei seinem begangenen 25jährigen Regierungsjubiläum. Allein das öffentliche Vertrauen ging dem Ministerium verloren bei der Vorlegung des Gesetzes über die Organisation des Stiftungswesens und der Wohlthätigkeitsanstalten, für welche die Staatsaufsicht beseitigt wurde, worin man eine Herstellung der Toten Hand und eine unverantwortliche Unterstützung des Klerus und des Mönchswesens erblickte.
Schon in der Kammer zeigte sich das Mißtrauen, und sie wurde im Sommer 1856 vertagt. Als aber die Hauptartikel des Gesetzes mit 60 gegen 44 Stimmen angenommen wurden, brach die allgemeine Unzufriedenheit los; in mehreren Städten kam es zu Mißhandlung der Mönche und zu Tumulten, welche durch Waffengewalt unterdrückt werden mußten. Indessen durch die Schließung der Session und durch einen im »Moniteur« veröffentlichen Brief des Königs an den Minister de Decker, der einen tiefen Eindruck machte, wurde die Ruhe wiederhergestellt; gleichwohl sah sich, zumal als die Gemeinderatswahlen im Oktober 1857 in antiklerikalem Sinn ausfielen, das Ministerium zum Rücktritt veranlaßt
An seine Stelle trat ein liberales Ministerium unter Rogier. Die Kammer wurde aufgelöst, und durch die Neuwahlen ergab sich eine liberale Majorität von 70 Stimmen gegen 38. Das neue Ministerium mußte seine Thätigkeit mit einer Beschränkung der Preßfreiheit beginnen, indem es auf Verlangen der französischen Regierung, welche durch das Orsinische Attentat erschreckt war, die Verfolgung der Beleidigung fremder Monarchen auch ohne Antrag der Beleidigten anordnete.
Auch beschloß es, die Befestigungsfrage in die Hand [* 20] zu nehmen. Die bisherigen Festungen an der Südgrenze gegen Frankreich waren veraltet; auch ihr Umbau war nicht zweckmäßig, da ihre große Zahl die ganze belgische Streitmacht erfordert, diese zersplittert und das Land selbst gänzlich wehrlos gemacht hätte. Es erschien daher zweckmäßiger, diese festen Plätze im Süden aufzuheben und Antwerpen, das sich mehr und mehr zu einem großartigen Handelsemporium entwickelte, zu einer bedeutenden Festung umzugestalten, welche im Notfall der belgischen Armee einen Stützpunkt gewähren und die Verbindung mit der See aufrecht erhalten konnte. Die Verwirklichung dieses Plans erforderte jedoch beträchtliche Geldmittel und mußte daher die Opposition gegen die Regierung verstärken; ferner stieß sie in Antwerpen selbst, wo man allerhand Nachteile und Gefahren von der Befestigung, welche die ¶