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entscheidende Scheldefrage insofern zu gunsten Hollands gelöst, als letzteres von jedem Schiff 1½ Fl. pro Tonne erheben durfte. Diese Abgabe wurde 1863 durch Rückkauf beseitigt. Seitdem hat sich der belgische Handel in großartiger Weise entwickelt, was nachstehende Tabelle veranschaulicht (Wert in Millionen Frank):
1840 | 1850 | 1870 | 1883 | |
---|---|---|---|---|
Generalhandel | 429.9 | 912.5 | 3282.0 | 5410.9 |
Spezialhandel | 345.2 | 500.2 | 1610.9 | 2895.2 |
Einfuhr | 205.6 | 236.5 | 920.8 | 1552.1 |
Ausfuhr | 139.6 | 263.7 | 690.1 | 1343.1 |
Durchfuhr | 43.9 | 206.5 | 831.7 | 1262.0 |
Am bedeutendsten ist der Handel mit Frankreich, der dem Wert nach über ein Viertel des gesamten Handels ausmacht; nächstdem mit England, dem Deutschen Zollverein und den Niederlanden. Die Hauptverkehrsgebiete nahmen 1883 in folgender Weise am belgischen Handel teil (Wert in Millionen Frank):
Länder | Einfuhr | Ausfuhr | Länder | Einfuhr | Ausfuhr |
---|---|---|---|---|---|
Frankreich | 307.1 | 415.5 | La Plata-Staaten | 71.5 | 11.1 |
England | 197.9 | 273.6 | Spanien | 9.5 | 38.7 |
Skandinavien | 35.5 | 10.8 | |||
Deutscher Zollverein | 222.8 | 214.9 | Italien | 22.9 | 30.8 |
Niederlande | 210.0 | 177.1 | Brasilien | 22.3 | 10.1 |
Verein. Staaten | 159.6 | 43.3 | Schweiz | 2.7 | 22.1 |
Rußland | 133.7 | 8.1 | Rumänien | 24.5 | 3.3 |
Die Einfuhr aus Asien, welche in den letzten Jahren außerordentlich schnell gewachsen ist, betrug 93,1, die Ausfuhr dahin 16,7 Mill. Fr.; der Gesamthandel mit Afrika dagegen nur 15,7 Mill. Fr. Der nicht unbedeutende Handel zwischen und den deutschen Zollausschlüssen Hamburg u. Bremen ist oben nicht inbegriffen.
Wert der hauptsächlichsten zum Konsum eingeführte Waren (in Tauenden Frank).
Waren | 1840 | 1850 | 1870 | 1883 |
---|---|---|---|---|
Butter | 764 | 806 | 9749 | 25826 |
Getreide aller Art | 10840 | 12123 | 89756 | 275436 |
Gemüse und Kartoffeln | 498 | 1311 | 6702 | 14431 |
Spinnstoffe | 29197 | 40835 | 188640 | 233761 |
Eisen | 790 | 615 | 24691 | 30585 |
Fett und Talg | 137 | 492 | 16304 | 29907 |
Chemische Produkte | 717 | 1783 | 11489 | 34473 |
Gewebte Stoffe | 22740 | 20943 | 49855 | 46618 |
Kunstgegenstände | 551 | 1145 | 6203 | 5082 |
Wert der hauptsächlichsten ausgeführten belgischen Produkte (in Tausenden Frank)
Waren | 1840 | 1850 | 1870 | 1883 |
---|---|---|---|---|
Wachs- und Talglichte | 13 | 75 | 11978 | 14432 |
Kohlen und Koks | 11692 | 29808 | 60320 | 85329 |
Kupfer und Nickel | 164 | 1107 | 4512 | 7425 |
Eisen und Eisenblech | 3245 | 1395 | 45464 | 82719 |
Spinnstoffe | 10343 | 19858 | 86897 | 90189 |
Baumwollgespinste | 748 | 629 | 3645 | 6680 |
Wollene Gespinste | 363 | 1730 | 30603 | 55240 |
Hanf- und Flachsgespinste | 2250 | 5510 | 32466 | 59420 |
Fett und Talg | 198 | 676 | 10173 | 29666 |
Gemüse und Kartoffeln | 3 | 2535 | 3960 | 12660 |
Maschinen aller Art | 4004 | 13845 | 23138 | 72407 |
Kunstgegenstände | 837 | 1697 | 2930 | 3404 |
Eier | 210 | 645 | 1863 | 5200 |
Papier | 438 | 1525 | 19260 | 21041 |
Häute (rohe) | 414 | 715 | 36253 | 45909 |
Steine | 666 | 812 | 13102 | 74870 |
Chemikalien | 346 | 523 | 3738 | 9996 |
Harz und Pech | 94 | 294 | 22562 | 17985 |
Sirup und Theriak | 33 | 163 | 2017 | 3768 |
Baumwollene Gewebe | 7438 | 12899 | 10727 | 20854 |
Wollene Gewebe | 846 | 20363 | 30366 | 25168 |
Flachs- und Hanfgewebe | 26197 | 15838 | 21061 | 20760 |
Die Mehreinfuhr entfällt hinsichtlich der Hauptartikel größtenteils auf die Rohstoffe, während die Mehrausfuhr größtenteils bei den Fabrikaten stattfindet. Die Eingangszölle betrugen 1883: 28,219,184 Fr. (wovon 12 Proz. auf Kaffee, 10,7 Proz. auf raffinierten Zucker kamen). Der gegenwärtig gültige Zolltarif datiert vom
Obwohl Industrie und Handel sich eines gleichmäßigen Fortschrittes erfreuen, ist die Handelsflotte doch unbedeutend. 1850 hatte Belgien noch 161 Schiffe, nur noch 62. Allein diese Verminderung ist nur scheinbar, da die Tragfähigkeit der einzelnen Fahrzeuge zugenommen hat; sie stieg nämlich von 34,919 auf 86,360 Ton. Darunter waren 15 Segelschiffe von 6458 T. und 47 Dampfer von 79,902 T. Von den Seeschiffen gehören 57 von 85,860 T. Antwerpen an. Der Handel wird meistens mit fremden Schiffen betrieben.
Haupthäfen sind Antwerpen und Ostende; nächstdem Gent, Löwen, Brüssel, Nieuport. Eingelaufen sind 1883 in die belgischen Häfen 6451 Schiffe mit einer Ladung von 3,938,339 T. (darunter 4868 Dampfer mit 3,441,724 T. Ladung), ausgelaufen 6393 Schiffe mit einer Ladung von 2,418,628 T. (darunter 4838 Dampfer mit 2,188,150 T. Ladung). Lebhafte Förderung findet der Handel und Verkehr Belgiens durch verschiedene Anstalten und Einrichtungen, z. B. durch die Kreditinstitute der Banken (Nationalbank, die Société générale etc.), die Börsen (in Antwerpen, Brüssel, Gent, Brügge, Ostende, Mons, Termonde, Löwen, Lüttich), durch zahlreiche Associationen, Handels- und Fabrikkammern, das Handelskontor zu St. Thomas in Guatemala, durch Handelsverträge, besonders aber durch ein sehr weitverzweigtes Netz von Straßen, Kanälen, schiffbaren Gewässern und Eisenbahnen, das nur in dem Englands seinesgleichen findet. Am befanden sich 4319 km (darunter 3063 km Staatsbahnen) im Betrieb, davon sind 35 Proz. doppelgeleisig. Im Verhältnis der Schienenlänge zum Areal steht demnach unter allen Ländern der Erde obenan. An Telegraphen besaß Belgien 5942 km Linien, die Länge der Drähte betrug 26,929 km und die Zahl der Büreaus 865. Die Zahl der Postanstalten betrug 1883: 869, durch welche 122,889,586 Briefe und Korrespondenzkarten, 46,570,000 Warenproben und Drucksachen und 91,319,000 Zeitungen befördert wurden.
Außer den Hauptflüssen Maas, Schelde und Yser (s. oben), deren schiffbare Strecke 406 km beträgt, sind noch 12 schiffbare Nebenflüsse vorhanden, wovon die zur Schelde gehörigen auf 388 km, die zur Maas gehörigen auf 307 km schiffbar sind. Die vorhandenen 44 Kanäle, welche die Schiffahrtsverbindung vervollständigen, haben eine Länge von 901 km. 1880 gehörten davon 119 km den Provinzen, 93 km den Kommunen. Die ältesten sind: der von Ypern nach Nieuport (1251 erbaut) und der Kanal von Stekenen in Ostflandern (1315 vollendet).
Die bedeutendsten Kanäle sind: der Charleroi-Brüssel- (74 km, mit Abzweigungen 89 km lang), der Maastricht-Herzogenbusch- (45 km), der Maas und Schelde verbindende Campinekanal (86 km), der von Gent über Brügge nach Ostende (77 km), der von Turnhout nach Antwerpen (37 km), die Kanäle von Furnes (96 km). Unter den zahlreichen Abzugskanälen oder Wateringues, welche dazu dienen, das Wasser aus den Polders abzuführen, damit die Kultur möglich werde, sind am bemerkenswertesten der Selzaetekanal (39 km) und der von Deynze zum Kanal von Brügge (27 km). Auf den belgischen Wasserstraßen wurden 1882: 32,4 Mill. Ton. an Waren
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befördert. Die Länge der Landstraßen betrug Ende 1881: 8734 km, davon gehörten 6803 km dem Staat. Für Münzen, Maße und Gewichte gilt jetzt das französische System. Es werden Silberstücke zu 5, 2½, 2, 1, ½ und ⅕ Fr., Nickelmünzen zu 20, 10 und 5, Kupfermünzen zu 2 und 1 Cent. geschlagen. Goldstücke sind 1848-51 zu 25 und 10 Fr. geprägt worden, doch wurde das fernere Prägen derselben durch Gesetz von 1850 aufgehoben, die Zirkulation des französischen Goldes indessen 1861 von den Kammern bewilligt. Von den Maßen heißt das Meter in Belgien Aune, das Liter (für Getreide) Litron und das Hektoliter (für Flüssigkeiten) Baril.
Staatsverfassung und Verwaltung.
Der Staatsverfassung zufolge ist Belgien eine konstitutionelle Monarchie. Die Dynastie ist Sachsen-Koburg-Gotha, jetziger König: Leopold II. (Ludwig Philipp Maria Viktor), König der Belgier, Herzog zu Sachsen, Prinz von Sachsen-Koburg und Gotha (geb. 1835, katholischer Konfession), der seinem Vater Leopold I. succedierte. Der Kronprinz führt den Titel »Herzog von Brabant«, der nächstgeborne Prinz den Titel »Graf von Flandern«. Der König bezieht eine Zivilliste von 3,5 Mill. Fr. Die belgische Konstitution vom gewährt unter allen europäischen Konstitutionen die größte Summe politischer Freiheiten.
Die Hauptzüge derselben sind folgende: Alle Belgier sind vor dem Gesetz gleich. Die persönliche Freiheit ist jedem zugesichert. Außer der Ergreifung auf der That kann niemand anders verhaftet werden als infolge einer richterlichen motivierten Verfügung. Die Wohnung ist unverletzlich. Die Freiheit eines jeden religiösen Kultus sowie seiner öffentlichen Ausübung ist zugesichert. Die bürgerliche Trauung muß immer der priesterlichen Einsegnung vorhergehen.
Der Unterricht ist frei, der auf Kosten des Staats erteilte öffentliche Unterricht wird durch ein Gesetz geregelt. Die Presse ist frei; die Zensur kann nie eingeführt, noch darf vom Verfasser, Verleger oder Drucker Kaution verlangt werden. Ist der Verfasser einer Schrift bekannt und in Belgien wohnhaft, so kann der Herausgeber, Drucker oder Verbreiter derselben nicht verfolgt werden. Die Belgier haben das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln, sich zu associieren, und bedürfen keiner besondern obrigkeitlichen Erlaubnis dazu.
Alle Staatsgewalt geht von der Nation aus; die gesetzgebende Gewalt wird von dem König, der Kammer der Repräsentanten und dem Senat gemeinschaftlich ausgeübt. Ein jedes auf die Staatseinnahmen und Ausgaben sowie auf das Kontingent der Armee bezügliche Gesetz muß zuerst in der Repräsentantenkammer votiert werden. Der König besitzt die ausübende Gewalt, wie sie in der Verfassung bestimmt ist. Die richterliche Gewalt wird durch die Appellationshöfe und die Bezirksgerichte ausgeübt.
Die ausschließlich die Gemeinden und Provinzen betreffenden Angelegenheiten werden durch Gemeinde- und Provinzialräte geordnet. Die Kammer der Repräsentanten besteht aus 132 unmittelbar von den Bürgern gewählten Abgeordneten, welche mindestens 21 Jahre alt sein müssen und den durch das Wahlgesetz bestimmten direkten Steuerbetrag (nicht unter 42 Fr.) zahlen. Das Wahlgesetz bestimmt nach der Bevölkerung die Zahl der Abgeordneten, welche das Verhältnis von einem Abgeordneten auf 40,000 Einw. nicht übersteigen darf. Um gewählt werden zu können, muß man Belgier von Geburt oder durch die große Naturalisation sein, im Genuß der bürgerlichen und politischen Rechte sich befinden, volle 25 Jahre alt sein und in Belgien seinen Wohnsitz haben.
Die Mitglieder der Repräsentantenkammer werden auf 4 Jahre gewählt und alle 2 Jahre zur Hälfte erneuert; sie beziehen Diäten (monatlich 240 Fr.). Die Mitglieder des Senats werden nach Maßgabe der Bevölkerung einer jeden Provinz durch dieselben Bürger gewählt, welche die Mitglieder der Repräsentantenkammer wählen. Der Senat besteht aus der Hälfte der Mitgliederzahl der Repräsentantenkammer (66). Die Senatoren werden auf 8 Jahre gewählt und alle 4 Jahre zur Hälfte erneuert.
Diäten beziehen die Senatoren nicht. Die Bedingungen der Wahlfähigkeit sind dieselben wie bei der Kammer der Repräsentanten; nur muß man wenigstens 40 Jahre alt sein und wenigstens 2116 Fr. direkte Steuern bezahlen. In den Provinzen, wo die Zahl der Bürger, welche diese Steuer bezahlen, nicht das Verhältnis von 1 auf 6000 erreicht, wird sie durch die am höchsten Besteuerten der Provinz vervollständigt. Die verfassungsmäßigen Gewalten des Königs sind erblich in seiner rechtmäßigen Nachkommenschaft von Mann zu Mann nach der Ordnung der Erstgeburt, mit beständiger Ausschließung der Frauen und ihrer Nachkommenschaft. In Ermangelung männlicher Nachkommen kann der König mit Zustimmung der Kammern seinen Nachfolger ernennen.
Die Person des Königs ist unverletzlich, seine Minister sind verantwortlich. Kein vom König ausgehender Akt ist gültig ohne die Mitunterzeichnung eines Ministers, der für dessen Inhalt verantwortlich ist. Der König ernennt und entläßt die Minister, er verleiht die Grade in der Armee und ernennt zu den Ämtern für die allgemeine Staatsverwaltung und die auswärtigen Angelegenheiten. Er befehligt die Land- und Seemacht, erklärt Krieg, schließt Frieden, Bündnisse und Handelsverträge.
Diese sowie alle diejenigen Verträge, welche den Staat belasten oder einzelne Belgier verpflichten, treten erst in Kraft, wenn sie die Zustimmung der Kammern erhalten haben. Der König sanktioniert die Gesetze und verkündigt sie, darf auch die Kammern auflösen, kann sie aber auf nicht länger als einen Monat vertagen. Er hat das Recht, richterlich zuerkannte Strafen zu mildern oder zu erlassen, Münzen schlagen zu lassen und Adelstitel zu verleihen, ohne aber irgend ein Vorrecht daran knüpfen zu können.
Seine Zivilliste wird für die Dauer seiner Regierung festgesetzt. Beim Tode des Königs versammeln sich die Kammern ohne Zusammenberufung spätestens am zehnten Tag nach dem Ableben. Vom Tode des Königs bis zur Eidesleistung des Thronfolgers oder Regenten wird die königliche Gewalt im Namen des belgischen Volks vom Ministerrat ausgeübt. Der König ist volljährig mit zurückgelegtem 18. Jahr; er nimmt nicht eher vom Thron Besitz, als bis er in der Mitte der Nationalrepräsentation einen feierlichen Eid auf die Verfassung geleistet hat. Bei der Minderjährigkeit oder Regierungsunfähigkeit des Königs treffen die Kammern Vorkehrungen für die Einsetzung der Regentschaft und der Vormundschaft. Die Regentschaft kann nur einer Person übertragen werden; während derselben kann keine Abänderung des Grundgesetzes stattfinden. Residenz des Königs ist Brüssel, als Lustschloß und Sommerresidenz dient Laeken.
Was die Staatsverwaltung betrifft, so bilden die vom König gewählten Minister (7) mit dem Kabinettssekretär und dem Intendanten der Zivilliste das Staatsministerium; allen Ministern, mit Ausnahme des Kriegsministers, sind Generalsekretäre beigegeben. Die Minister haben in den Kammern nur dann Stimmrecht, wenn sie Mitglieder derselben sind; sie haben aber Zutritt zu jeder Kammer und müssen
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auf ihr Verlangen gehört werden. Sie sind verantwortlich und können von der Kammer der Repräsentanten angeklagt werden. Der König kann einen durch den Kassationshof verurteilten Minister nur auf Verlangen einer der beiden Kammern begnadigen. Die Provinzial- und Gemeindeverfassung Belgiens stellt Provinz und Gemeinde als selbständige Autoritäten hin, die nur insofern einer Einwirkung der Zentralgewalt unterliegen, als ihre Beschlüsse Veranlassung zu Konflikten mit den allgemeinen Interessen des Landes geben können.
Die Grundzüge der Provinzialverfassung bestehen nach dem Provinzialgesetz vom (zuletzt 13. und abgeändert) in folgenden Bestimmungen. In jeder Provinz bestehen ein Provinzialrat und ein Kommissar der Regierung, welcher den Titel Gouverneur führt und vom König ernannt und abgesetzt wird. Das Wahlrecht zum Provinzialrat steht jedem Belgier zu, welcher 21 Jahre alt ist und 20 Fr. an direkten Steuern bezahlt. Der Provinzialrat wählt aus seiner Mitte einen beständigen Ausschuß von sechs Mitgliedern, welcher unter dem Präsidium des Gouverneurs alle Funktionen und Rechte des Provinzialrats vertritt, deren Vollziehung keinen Aufschub gestatten.
Wahlfähig sind die, welche zur Wahl für die Repräsentantenkammer geeignet sind, mindestens seit 1. Jan. des Jahrs, in welchem die Wahl stattfindet, in der betreffenden Provinz ihren Wohnsitz haben und weder zu den Verwaltungs- noch zu den Finanzbeamten der Provinz gehören. Der Provinzialrat versammelt sich jährlich in dem Hauptort der Provinz am ersten Dienstag des Monats Juli zu ordentlicher Session; der König kann in außerordentlicher Weise zusammenberufen.
Die Dauer der ordentlichen Sitzung ist 14 Tage, kann aber ohne Zustimmung des Gouverneurs nicht um mehr als 8 Tage verlängert werden. Der Provinzialrat ernennt die Provinzialbeamten, reguliert die Rechnungen der Provinz und stellt ihr Budget fest. Er verteilt das Kontingent der direkten Steuern unter die Gemeinden und erläßt die Reglements für die innere Verwaltung und die öffentliche Polizei in der Provinz. Seine Beschlüsse sind in finanziellen und Verwaltungsangelegenheiten der königlichen Bestätigung unterworfen.
Die Aufhebung eines solchen Beschlusses von seiten der Krone muß aber innerhalb 40 Tagen, nachdem er gefaßt ist, geschehen. Die Provinzialräte werden auf 4 Jahre ernannt und von 2 zu 2 Jahren zur Hälfte erneuert. Der Gouverneur der Provinz allein ist mit der Ausführung der vom Rat oder vom Ausschuß gefaßten Beschlüsse beauftragt. Der Gouverneur wacht ferner über die Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung in der Provinz; er verfügt zu diesem Zweck über die Bürgergarde und die Gendarmerie und kann die bewaffnete Macht requirieren.
An der Spitze eines jeden Verwaltungsdistrikts (Kantons) der Provinz steht ein königlicher Kommissar (commissaire d'arrondissement), welcher unter der Oberaufsicht des Gouverneurs und des beständigen Ausschusses die Verwaltung in den Gemeinden, deren Einwohnerzahl nicht 5000 Seelen übersteigt, beaufsichtigt und über die Vollziehung der Gesetze etc. wacht. Die Gemeindeverfassung stützt sich auf das Gemeindegesetz vom (zuletzt revidiert).
Die Gemeindeobrigkeit besteht in jeder Kommune aus dem Gemeinderat, dem Bürgermeister und den Schöffen. Bei einer Bevölkerung bis 20,000 Seelen hat die Gemeinde 2 Schöffen, bei mehr 4. Der Gemeinderat mit Bürgermeister und Schöffen hat 7 Mitglieder in Gemeinden bis zu 1000, 9 in Gemeinden bis zu 3000, 11 in Gemeinden bis zu 10,000, 13-17 in Gemeinden zwischen 10,000 und 25,000 Seelen. In noch größern Gemeinden nimmt der Gemeinderat um je 2 Mitglieder für 5000 Seelen zu; steigt die Zahl über 40,000, so vermehrt er sich um 2 Mitglieder nur für jede fernern 10,000 Seelen. Alle Belgier, die 21 Jahre alt, im Besitz der bürgerlichen Rechte, in der Gemeinde wohnhaft sind und 10 Fr. an direkten Steuern entrichten, sind Gemeindewähler. Die ganze Gemeindeverfassung ist nach dem Vorbild der Provinzialverfassung geregelt; die Attributionen des Bürgermeisters entsprechen denen des Gouverneurs.
Die Wohlthätigkeitsanstalten, die von Provinzen und Gemeinden unterhalten werden, sind sehr zahlreich. Die Bürgermeister und Schöffen in jeder Kommune sind verpflichtet, ein sogen. Wohlthätigkeitsbüreau zu halten; in Gemeinden über 2000 Einw. müssen Wohlthätigkeitskomitees die Armen in ihren Wohnungen unterstützen. 1880 bestanden 180 anerkannte Unterstützungsvereine auf Gegenseitigkeit mit einem Vermögen von 1⅙ Mill. Fr. Hervorzuheben sind: Taubstummen- und Blindeninstitute (11: in Antwerpen, Brüssel, Woluwe-Saint Lambert, Gent, Brügge, Lüttich, Namur, Bouges lez Namur, Maeseyk), Irrenhäuser, Gebär-, Findel- und Waisenhäuser, Kinderbewahranstalten, Anstalten für Augenkranke, die Irrenkolonie zu Gheel (wo die Kranken gegen Entgelt bei den Bauern untergebracht werden), Lehr- und Arbeitshäuser für Arme, Bettler- und Landstreicherhäuser, Versorgungs- und Versicherungsanstalten, Leihhäuser (20) etc. Was die Paupertätsverhältnisse anlangt, so ist in Westflandern der 8. Mensch ein Hilfsbedürftiger, in Ostflandern der 16., im Hennegau der 20., in Limburg der 24., in Lüttich der 28., in Brabant der 36., in Antwerpen der 41., in Namur der 91., in Luxemburg der 660. Mensch.
In betreff der Gerichtsverfassung und Rechtspflege ist zu bemerken, daß die Streitigkeiten über bürgerliche und staatsbürgerliche Rechte in erster Instanz vor die Ziviltribunale (26 an der Zahl), deren Richter vom König ernannt werden, in zweiter Instanz vor die Appellhöfe (3 an der Zahl, zu Brüssel, Gent und Lüttich) gehören. Polizeivergehen werden von den Zuchtpolizeigerichten abgehandelt. Daneben bestehen ein Militärgerichtshof, zahlreiche Handelsgerichte, 204 Friedensgerichte sowie Sachverständigenräte (conseils de prud'hommes); Assisenhöfe gibt es 9. Für alle Kriminalsachen sowie für politische und Preßvergehen ist das Geschwornengericht angeordnet.
Für ganz Belgien besteht ein Kassationshof zu Brüssel, welcher, mit Ausnahme der Ministerprozesse, nicht über die Materie der Rechtssachen erkennt. Die Räte der Appellhöfe, die Präsidenten der ihnen untergeordneten Tribunale werden vom König nach einer doppelten Liste ernannt, die von diesen Gerichtshöfen selbst und von den Provinzialräten eingereicht wird. Die Räte am Kassationshof ernennt der König aus einer vom Senat und vom Kassationshof verfaßten Liste.
Die Richter werden auf Lebenszeit ernannt und können nur durch Urteilsspruch ihres Amtes entsetzt oder suspendiert werden. Seit der französischen Herrschaft gelten in Belgien der Code Napoleon und die französischen Gesetze aus der Zeit von 1795 bis 1814, welche nur teilweise örtliche Abänderungen erlitten haben. Die unter der holländischen Herrschaft aufgehobene Jury wurde schon 1831 wiederhergestellt und nach den neuen Grundlagen organisiert. Die Modifikationen, welche der Code pénal 1832 in Frankreich erfuhr, veranlaßten auch in Belgien eine Revision desselben. Das
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1834 den Kammern vorgelegte »Projet de loi apportant des modifications aux codes pénals etc.« hebt die Brandmarkung, den Pranger, die Abhauung des Daumens bei Parricide, die Deportation und Verbannung auf und setzt für politische Verbrechen die Detention fest. Die Todesstrafe ward nur für Mord beibehalten. Die bedeutendsten Landrechte sind die von Lüttich, Limburg (von 1682), Stavelot, Flandern; die wichtigsten Stadtrechte die von Antwerpen, Brüssel, Gent, Lille, Mecheln und Lüttich, wo unter dem Namen Paix alte Statuten bestanden, aus denen ein Rechtsbuch, Bawillart, entstand.
Vgl. Warnkönig, Flandrische Staats- und Rechtsgeschichte (Tübing. 1832-39, 3 Bde.);
Rapsaet, Analyse des droits des Belges (Gent 1824-26, 3 Bde.).
An Gefängnissen bestehen: Zentralgefängnisse in Gent und Löwen, Maisons de sûreté bei jedem Assisenhof und Maisons d'arrêt in jedem Arrondissement, wo nicht eine Maison de sûreté besteht. Besserungsanstalten für jugendliche Verbrecher befinden sich in St.-Hubert, Namur und Gent.
Finanzen. Das Budget für 1884 enthält an Einnahmen 316,136,727, an Ausgaben 326,870,741 Fr. Hauptposten der Einnahmen sind: direkte Steuern 48,2, indirekte 117,3, Verkehrsanstalten 135,4 Mill. Fr. Die Einnahmen Belgiens haben sich seit 35 Jahren mehr als verdoppelt. Während 1854 die direkten Steuern etwa 25 Proz., die indirekten 28 Proz. der Einnahmen betrugen, sanken 1884 jene auf 12, stiegen letztere aus 37 Proz. Von den direkten Steuern ist (1884) veranschlagt die Grundsteuer auf 23,3, Personalsteuer auf 18,3, Gewerbesteuer auf 6,3 Mill. Fr. Unter den indirekten Steuern sind: Eingangszölle 23,6, Verbrauchssteuern 38,7 (davon Branntweinsteuer 22,6, Bier- und Essigsteuer 9,2, Zuckersteuer 3,7 Mill. Fr.), Erbschaftssteuer 19,4 und Registrierung 27,2 Mill. Fr. Der Ertrag der Eisenbahnen wurde veranschlagt auf 122, der der Post auf 8,3 Mill. Fr. Unter den Ausgaben erfordern
Staatsschuld und Pensionen | 100.5 Mill. Frank |
Dotationen | 4.8 |
Justizministerium | 15.5 |
Ministerium des Äußern | 2.4 |
Ministerium des Innern u. Unterrichts | 28.0 |
Ministerium der öffentlichen Arbeiten | 17.6 |
Ministerium der Verkehrsanstalten | 90.8 |
Ministerium des Kriegs | 49.5 |
Ministerium der Finanzen | 15.9 |
Die Abrechnung für 1881 ergab: Einnahmen 378 Mill. Fr., Ausgaben 402,3 Mill. Fr., somit ein Defizit von 24,3 Mill. Fr.; doch ist letzteres überwiegend durch die außerordentlichen Ausgaben, die 99,5 Mill. Fr. betrugen, herbeigeführt.
Die öffentliche Schuld betrug 1884: 2116,9 Mill. Fr. (mit Ausschluß von Zinsgarantien u. a. auf ein 5proz. Kapital reduziert, 1686,8 Mill. Fr.) und erforderte 1883: 85,1 Mill. an Zinsen und Tilgung. Die Staatsschuld, 1831 durch Übernahme von 220 Mill. Fr. aus der holländischen entstanden, absorbiert jetzt jährlich 31 Proz. der ordentlichen Einnahmen (1854: 29 Proz.). Die zuletzt 1875 angestellte Erhebung über die finanzielle Lage der belgischen Gemeinden (Städte inbegriffen) ergab eine jährliche Einnahme von 197 Mill. Fr. (darunter 117 Mill. außerordentlich), welcher die Ausgabe mit 161,4 Mill. Fr. (darunter 103,9 Mill. außerordentlich) gegenüberstand. Von den ordentlichen Ausgaben erfordern das Unterrichtswesen 14,7 Mill., Wegebau und Gesundheitspflege 12,2 Mill., Gemeindeverwaltung 14,4 Mill. und Armenpflege 5,5 Mill. Fr.
Das Heerwesen ist durch die Gesetze vom und geregelt. Der Truppenbestand unterliegt der jährlichen Bewilligung der Volksvertretung. Der Ersatz erfolgt durch Konskription mit Stellvertretung. Die Vertreter besorgt der Staat gegen die Loskaufsumme von 1800 Fr. Die Dienstpflicht dauert 5 Jahre aktiv bei der Armee, 5 Jahre in der Reserve; ausgehoben werden jährlich 12,000 Mann. Die Dienstzeit beträgt je nach den Waffen 28 Monate bis 4 Jahre. Pflichten der Mannschaften des beurlaubten Standes sind ähnlich wie in Deutschland.
Das Land ist in zwei Generalkommandos, die Provinzen in kleinere Aushebungsbezirke geteilt. An Truppen bestehen 1) Infanterie: 4 Divisionen, 3 zu 2, 1 zu 3 Brigaden, mit 14 Regimentern Linie, 1 Grenadiere, 3 Jäger zu Fuß (jedes 4 Bataillone, davon 1 in Kadre, und 1 Depot) und 1 Regiment Karabiniers zu 6 Bataillonen, davon 2 in Kadres und 1 Depot. Alle Bataillone zu 4 Kompanien. Zusammen 19 Regimenter mit 58 aufgestellten, 20 Kadrebataillonen, 19 Depots; 1882: 1828 Offiziere, 26,955 Mann aktiv, 48,456 Mann beurlaubt.
2) Kavallerie: 2 Divisionen zu 2 Brigaden, jede 2 Regimenter zu 5 Eskadrons (davon 1 im Krieg Ersatz), zusammen 8 Regimenter (2 Jäger zu Pferde, 2 Guiden, 4 Lanciers), 40 Eskadrons;
364 Offiziere, 5037 Mann aktiv (2852 beurlaubt), 5440 Pferde.
3) Artillerie: 3 Brigaden, 1. und 2. zu 2 Feld-, die 3. zu 3 Festungsregimentern. Die Feldregimenter Nr. 1 und 3 haben 8 Fuß-, 2 Reserve- (Kadre-), Nr. 2 und 4: 7 Fuß-, 2 reitende, 1 Reservebatterie, zusammen Feldartillerie: 34 bespannte (à 6 Geschütze) und 6 Kadrebatterien mit 204 Geschützen;
Festungsartillerie: 48 formierte, 3 Kadrebatterien, 3 Depots.
Die Artillerie zählte 1882: 495 Offiziere, 6951 Mann aktiv (11,628 beurlaubt). Die Depots bilden auch den Ersatz der Feldartillerie aus. Ferner gehören zur Artillerie je 1 Kompanie Pontoniere, Feuerwerker, Handwerker und Zeugschmiede.
4) Genie: 1 Regiment von 3 Bataillonen und 1 Depot, je 1 Eisenbahn-, Feld- und Festungstelegraphisten-, Festungspontonier- und Geniehandwerkerkompanie;
84 Offiziere, 1357 Mann aktiv (2495 beurlaubt).
Gendarmerie (3 Divisionen zu 3 Kompanien), Train (1 Bataillon von 6 Kompanien und 1 Depot), Verwaltungsbataillon (8 Kompanien) zusammen 613 Offiziere und 3241 Mann aktiv (5435 beurlaubt). Gesamtstärke im Frieden: 3384 Offiziere, 43,541 Mann, 8907 Pferde;
im Krieg 114,407 Mann mit 13,800 Pferden und 240 Geschützen.
Außerdem besteht eine Bürgergarde, welche die untern Chargen bis zum Hauptmann selbst ernennt; ca. 120,000 Mann, wovon etwa 31,000 Mann aktiv dienen. Eine Marine ist erst im Entstehen. Hauptfestung ist Antwerpen (s. d.), daneben die Citadellen von Dendermonde, Namur, Diest und Lüttich. Völkerrechtlich ist Belgien neutral. Das Wappen ist der goldene stehende Brabanter Löwe mit ausgestreckter roter Zunge, auf schwarzem Grund mit der Devise: »L'union fait la force« (s. Tafel »Wappen«). Die Farben des Landes sind (seit 1831) Rot, Gelb und Schwarz senkrecht nebeneinander und zwar so, daß Schwarz die Stelle unmittelbar an der Flaggenstange, Gelb die Mitte und Rot den äußern Platz einnimmt (s. Tafel »Flaggen«). - Von Ritterorden bestehen nur: Ehrenstern zur Belohnung derer, welche dem Vaterland 1830 besondere Dienste geleistet haben;
der Leopoldsorden (gestiftet 1832) und der Orden für Zivilverdienste (1867 gestiftet).
Vgl. die offizielle »Statistique générale de la
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Belgique«, neuester Band: 1861-75 (Brüss. 1878 ff.),
und die jährlich erscheinenden amtlichen Werke: »Annuaire statistique«, »Almanach royal officiel«, »Tableau général du commerce«; Tarlier und Wauters, La Belgique ancienne et moderne (das. 1874, 2 Bde.);
Jourdain, Dictionnaire de géographie historique du royaume de Belgique (das. 1868 ff.);
van Bemmel, La Belgique illustrée (das. 1880);
Genonceaux, La Belgique physique, politique, industrielle et commerciale (das. 1878);
Hymans, La Belgique contemporaine (2. Aufl., Mons 1884);
Frédérix, La Belgique industrielle et commerciale (Brüss. 1881);
Thonissen, La constitution belge annotée (2. Aufl., das. 1877).
Von deutschen Werken: E. Förster, Reise durch Belgien (Leipz. 1865, von kunsthistorischem Interesse);
Ötker, Belgische Studien (Stuttg. 1876);
Rodenberg, und die Belgier (Berl. 1881);
Bädeker, und Holland, Handbuch für Reisende (15. Aufl., Leipz. 1880);
»Revue de Belgique« (seit 1868, Brüssel).
Karten: Carte de Belgique (offiziell, 1:20,000, 457 Meßtischblätter; im Farbendruck fast beendet);
Carte topographique de la Belgique (1:40,000, in 72 Bl., 1867 ff.; noch unvollendet);
Carte de Belgique indiquant toutes les voies et communications (1:160,000, in 4 Bl., 1871);
geologische Karte von Dumont (1:160,000, 9 Bl.).
Geschichte.
Der Name Belgien rührt von dem Stamm der Belgen (s. d.) her, welche in der ältesten Zeit, lange ehe Cäsar Gallien eroberte, das Land bewohnten, das seit Augustus als Gallia Belgica, jedoch in größerer Ausdehnung als das jetzige Belgien (zwischen Seine, Saône, Rhein und Nordsee), eine der vier Provinzen des römischen Gallien bildete. Schon im 4. Jahrh. begann das erobernde Eindringen der salischen Franken, und Belgien gehörte seit 486 zu dem mächtigen Frankenreich. Als dasselbe 843 unter die Söhne Ludwigs des Frommen geteilt wurde, fiel an Kaiser Lothar und nach dessen Tod (855) an seinen Sohn Lothar II. als Teil von dessen Staat Lotharingien.
Als diesen 870 im Vertrag von Mersen der ostfränkische König Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle von Westfranken unter sich teilten, kam der größere Teil Belgiens an Ostfranken, nur Artois und Flandern an Frankreich. Jener gehörte fortan zum deutschen Herzogtum Lothringen., seit dem 10. Jahrh. zum Herzogtum Niederlothringen, nach dessen Auflösung die Herzogtümer Brabant, Luxemburg und Limburg sowie die Grafschaft Hennegau, die Markgrafschaften Namur und Antwerpen, endlich die Herrschaft Mecheln entstanden, neben welchen das Bistum Lüttich einen ausgedehnten Besitz hatte.
Die französischen Lehnsfürstentümer Artois und Flandern fielen 1385 nach Aussterben der dortigen Grafen an das Haus Burgund, welches durch Erbschaft, Kauf und Verträge dann auch die Fürstentümer Belgiens sowie die nördlichen Provinzen an sich brachte, so daß seit der Mitte des 15. Jahrh. die südlichen und nördlichen Provinzen der Niederlande vereinigt waren. Nach dem Fall Karls des Kühnen ging der Besitz dieser Lande 1482 auf das Haus Habsburg über, unter dessen Herrschaft die vereinigten siebzehn niederländischen Provinzen das blühendste, reichste Land Europas waren.
Karl V. (1506-55) bemühte sich, ihnen eine einheitliche politische Organisation zu geben, indem er 1548 aus ihnen den burgundischen Kreis bildete (s. Niederlande, Geschichte). Indes der Aufstand, welchen der Despotismus und der kirchliche Verfolgungseifer seines Nachfolgers Philipp II. hervorriefen, führte nach vergeblichen Versuchen, die politische Einheit der nördlichen und der südlichen Provinzen aufrecht zu erhalten, eine Trennung herbei. Die sieben nördlichen Provinzen konstituierten sich durch die Utrechter Union (Januar 1579) als protestantische Republik, während die Herrschaft der Spanier über den Süden, welcher dem Katholizismus treu geblieben war, durch die Eroberung Antwerpen dauern befestigt wurde.
Auf kurze Zeit selbständig ward Belgien, als Philipp II. das Land an seine Tochter Isabella und deren Gemahl Albrecht von Österreich abtrat (1598-1621). Nach des kinderlosen Albrecht Tod fiel es wieder an Spanien zurück. In dem fast ununterbrochenen Krieg Spaniens mit den Niederlanden gelang weder jenem die Wiederauferstehung der abgefallenen Provinzen noch diesem die Befreiung der spanisch gebliebenen. Nur Teile von Flandern, Brabant und Limburg fielen als die sogen. Generalitätslande an die Republik der Niederlande, als im Frieden von Münster 1648 oder die spanischen Niederlande definitiv von der Republik getrennt wurden.
Das Schicksal Belgiens unter Spaniens Herrschaft war ein klägliches und unwürdiges. Denn nicht nur, daß Spanien die Schließung der Schelde durch die Holländer zugab und so Belgien von dem Seehandel vollständig absperrte, sondern das Land bildete in den Eroberungskriegen Frankreichs gegen Spanien auch fast immer den Kriegsschauplatz und das Entschädigungsobjekt. Im Pyrenäischen Frieden (1659) trat Spanien die Grafschaft Artois, Gravelines, Landrecy, Diedenhofen, Le Quesnoy, Montmédy u. a. an Frankreich ab. Neue, im sogen. Devolutionskrieg von den Franzosen gemachte und durch den Frieden von Aachen (1668) anerkannte Eroberungen rissen Lille, Charleroi, Oudenaarde, Kortrijk u. a. von ab, die zwar im Nimwegener Frieden (1679) teilweise an Belgien zurückfielen, wogegen dieses aber andre Gebietsteile mit Valenciennes, Nieuport, Cambrai, St.-Omer, Ypern, Charlemont einbüßte und im Ryswyker Frieden von 1697 nur teilweise wiedererhielt. Durch die Friedensschlüsse von Utrecht und Rastatt (1713 und 1714), welche dem zum Teil aus belgischem Gebiet ausgefochtenen spanischen Erbfolgekrieg ein Ende machten, kam an Österreich und hieß fortan österreichische Niederlande. Doch erhielt Holland durch den sogen. Barrieretraktat (s. d.) das Besatzungsrecht in den bedeutendsten Grenzfestungen, sowie auch die Schließung der Schelde zum Nachteil Belgiens aufrecht erhalten ward.
Die österreichische Regierung suchte zwar dem arg mitgenommenen Land aufzuhelfen, stieß aber wiederholt aus Opposition, namentlich in Finanzfragen. Die Steuerverordnungen des im Namen des Statthalters in Belgien, des Prinzen Eugen von Savoyen, die Regierung leitenden Marquis de Prié erregten sogar einen Aufstand, der mit blutiger Gewalt unterdrückt werden mußte und den Zunftmeister Anneessen aufs Schafott brachte. Nachdem das im österreichischen Erbfolgekrieg von dem Marschall von Sachsen für Frankreich größtenteils eroberte Land im Frieden von Aachen 1748 wieder an Österreich gekommen, hob sich der Wohlstand, zumal durch den Statthalter Karl von Lothringen (bis 1780) unter Maria Theresia; besonders wurde auch für Unterricht gesorgt und die belgische Akademie der Wissenschaften gestiftet. Unter Joseph II. wurde zwar 1781 der lästige Barrieretraktat aufgehoben, was die Schleifung mehrerer wichtiger Grenzfestungen zur Folge hatte; dagegen rief der unpraktische
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Reformeifer Josephs, welcher die religiösen Sympathien und die von ihm in der Joyeuse entrée ausdrücklich anerkannten ständischen Gerechtsame Brabants, Limburgs und Antwerpens nicht achtete, einen förmlichen Aufstand und Sezessionsversuch hervor. Die Studierenden der ihrer Privilegien beraubten Universität Löwen gaben das Zeichen; das unsichere Verhalten der Regierung ermutigte die Aufständischen, welche, geführt von dem Advokaten van der Noot, die Anerkennung Josephs verweigerten (1788). Die Insurgenten unter van der Meersch schlugen die Österreicher bei Turnhout und nahmen ihnen mehrere feste Plätze ab; in Brüssel selbst aber wurde (Dezember 1789) die österreichische Garnison zur Kapitulation und Räumung der Stadt gezwungen. Am erklärten sich sämtliche Provinzen als »Vereinigte belgische Staaten« für einen unabhängigen Staat und übertrugen ihre gemeinsamen Angelegenheiten einem Kongreß.
Aber die Spaltungen unter den Aufständischen, zwischen einer demokratischen Partei unter Vonck und einer klerikal-aristokratischen unter van der Noot, machten es, obwohl der Kongreß die Anerbietungen des neuen Kaisers, Leopold II., zurückwies, dem österreichischen General Bender, welcher sich bis dahin in Luxemburg gehalten hatte, möglich, Ende November 1790 ohne große Schwierigkeiten das Land zu unterwerfen, worauf eine Amnestie erlassen und die frühern Ordnungen und Rechte wiederhergestellt wurden.
Nach dem Ausbruch des Kriegs zwischen dem Kaiser und Frankreich 1792 machten sich schon 7. Nov. die Franzosen durch die Schlacht von Jemappes zu Herren Belgiens, mußten es zwar nach der Niederlage Dumouriez' bei Neerwinden wieder räumen, eroberten es aber nochmals unter Pichegru durch die Schlacht bei Fleurus welche der österreichischen Herrschaft in Belgien für immer ein Ende machte und die Annexion an die französische Republik zur Folge hatte. Diese Annexion wurde in den Friedensschlüssen von Campo Formio 1798 und von Lüneville 1801 bestätigt. Belgien wurde in neun Departements eingeteilt und durch die Einführung französischer Gesetze und Einrichtungen vollständig mit Frankreich verschmolzen.
Nach dem Sturz Napoleons wurde Belgien auf dem Wiener Kongreß nach mehrmonatlicher Verwaltung durch einen österreichischen Generalgouverneur mit Holland zum Königreich der Vereinigten Niederlande vereinigt und unter die Herrschaft des Prinzen Wilhelm von Oranien gestellt, der als Wilhelm I. den Titel eines Königs der Niederlande annahm, worauf durch den Londoner Vertrag vom und durch die Wiener Schlußakte vom die Verhältnisse des neuen Königreichs näher bestimmt und geregelt wurden. Im zweiten Pariser Frieden von 1815 wurde die Südgrenze desselben durch einige neu hinzugefügte Bezirke mit den Festungen Philippeville, Marienburg und dem Herzogtum Bouillon verstärkt. Die neue Konstitution des Königreichs ward verkündigt und vom König Wilhelm I. 27. Sept. auf dem Königsplatz zu Brüssel beschworen.
Diese Vereinigung von Provinzen, welche sich durch Nationalität, Sprache, Konfession, materielle Interessen und eine lange historische Vergangenheit unterschieden, erwies sich bald als eine unglückliche. Belgien hatte unter französischer Herrschaft in Gewerbe und Industrie einen Ausschwung genommen, trieb aber gar keinen Handel und stand an Wohlhabenheit weit hinter Holland zurück; die Geistesrichtung war durchaus französisch, und, von den Städten abgesehen, klerikal.
Von Anfang an traten nun die nördlichen Provinzen, welche auch die königliche Residenz, den Haag, besaßen, als die gebietenden auf. Die neue Konstitution wurde von der Mehrheit der berufenen belgischen Notabeln verworfen, aber durch eine sophistische Fiktion vom König den belgischen Provinzen oktroyiert; dies sowie die Gleichstellung der Konfessionen und die Einführung der holländischen Sprache in den amtlichen Gebrauch erregten Unzufriedenheit. Dazu kam, daß die südlichen Provinzen durch die Teilnahme an der holländischen Staatsschuld sehr benachteiligt wurden, und daß dieselben im Verhältnis zu ihrer starken Bevölkerung viel zu wenig Abgeordnete zu wählen hatten. Am eifrigsten wirkte gegen die Union der katholische Klerus in an dessen Spitze der Bischof von Gent, Prinz Moritz von Broglie, stand.
Das Bestreben der Regierung, dem Klerus seinen Einfluß auf die Unterrichtsanstalten zu entreißen, fand erbitterten Widerstand, infolgedessen 1817 selbst der Bischof von Gent zur Strafe gezogen und seiner geistlichen Gerichtsbarkeit beraubt wurde. Die untern Klassen wurden aufgebracht durch Einführung einer Schlacht- und Mahlsteuer (1821) und durch das 1822 organisierte Amortissementssyndikat, welches, der Öffentlichkeit und aller Kontrolle entzogen, als ein büreaukratisches Institut sehr mißliebig war.
Endlich glaubten sich die Angehörigen der südlichen Provinzen bei Anstellungen in allen Departements zurückgesetzt. Daher erhob die Presse laut ihre Stimme gegen das ganze System. Die Regierung suchte anfangs einzulenken durch Abschließung eines Konkordats mit dem Papst auf Grund des zwischen Napoleon I. und Pius VII. geschlossenen durch Zurücknahme der Schlacht- und Mahlsteuer etc.; aber es war schon so weit gekommen, daß diese Konzessionen als Beweis der Schwäche galten, und als vollends die beiden unzufriedenen Parteien, die ultramontane und die liberale, eine Koalition schlossen und in ihren Preßorganen, namentlich dem geschickt redigierten »Courrier des Pays-Bas«, immer weiter gehende Forderungen stellten, sah sich die Regierung schließlich zu energischem Auftreten veranlaßt. Am erschien mit einem reaktionären Preßgesetzentwurf eine königliche Botschaft, worin die Konstitution als Ausfluß des freien Willens des Königs, die Opposition als ein Klub von Verführten und Betrügern dargestellt war. Diese Botschaft mußte von allen Beamten bei Strafe der Absetzung binnen 24 Stunden unterzeichnet werden. Gleichzeitig wurde gegen die Presse streng eingeschritten und mehrere der angesehensten Stimmführer der Opposition, wie de Potter, Tielemans, Bartels u. a., des Landes verwiesen.
Unter solchen Umständen war es kein Wunder, daß die französische Julirevolution 1830 eine Katastrophe hervorrief. Die Aufführung der »Stummen von Portici« 25. Aug. gab das Zeichen zum Aufstand in Brüssel, wo Emissäre von Paris die Stimmung bearbeitet hatten. Bald fand die Insurrektion auch in andern Städten, in Lüttich, Verviers, Brügge, Löwen etc., Nachahmung. In Brüssel wurden namentlich der Palast des verhaßten Justizministers van Maanen und die amtliche Druckerei zerstört. Deputationen verlangten im Haag Abstellung der Mißverhältnisse, eine völlige Trennung war noch nicht beabsichtigt. Allein die Ereignisse drängten von selbst zu diesem Schritt. Nachdem ein Versuch des Prinzen von Oranien, eine Verständigung herbeizuführen, mißlungen, wurde 22. Sept. von der durch radikal
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gesinnte Flüchtlinge aus Frankreich verstärkten Revolutionspartei eine provisorische Regierung gebildet, worauf 23. Sept. der Angriff des Prinzen Friedrich der Niederlande auf Brüssel erfolgte. Nach viertägigem Kampf mußten sich die holländischen Truppen mit bedeutendem Verlust nach Mecheln zurückziehen; von den Insurgenten waren etwa 600 gefallen. Nun wurde von einer neuen Regierung, an welcher Rogier, Graf Mérode, van de Weyer, Potter u. a. sich beteiligten, 4. Okt. die Unabhängigkeit Belgiens erklärt.
Diese Erklärung wurde 10. Nov. von dem Nationalkongreß unter de Potters Vorsitz wiederholt, nachdem das schreckliche und nutzlose Bombardement Antwerpens durch den holländischen General Chassé (27. Okt.) den nationalen Haß und die Erbitterung zwischen den Belgiern und Holländern so gesteigert hatte, daß eine Versöhnung nicht mehr möglich war. Das Haus Oranien wurde vom Thron ausgeschlossen, aber nicht, wie de Potter beantragte, die Republik proklamiert, sondern auf Antrag des Präsidenten Surlet die Errichtung einer konstitutionellen Monarchie unter einer neuen Dynastie mit 187 gegen 13 Stimmen beschlossen. Die in London inzwischen zusammengetretene Konferenz der Vertreter von Österreich, Preußen, Rußland und England erkannte die Auflösung des Vereinigten Königreichs unterm an; dagegen wurden die Bestimmungen der Konferenz in betreff der Grenzregulierung, wonach Holland die Grenzen von 1790 erhalten sollte, von Belgien nicht angenommen, hierauf von der Konferenz bedeutend modifiziert und als neue Grundlage die sogen. 18 Artikel vereinbart, worin besonders das Verhältnis Belgiens zum Deutschen Bund wegen des von Belgien beanspruchten Luxemburg näher bestimmt war.
Währenddessen hatte der Kongreß zu Brüssel die neue Verfassung vollendet und bis zur Wahl eines Königs Surlet zum provisorischen Regenten ernannt. Nachdem die Kandidatur des Herzogs von Nemours sowie die des Herzogs von Leuchtenberg an dem Widerspruch der Konferenz der Mächte gescheitert war, wurde 4. Juni der Prinz Leopold von Sachsen-Koburg trotz des Protestes des katholischen Klerus mit großer Majorität (mit 142 unter 196 Stimmen) zum König erwählt. Er nahm die Krone an unter der Bedingung, daß die 18 Artikel zu Recht beständen, hielt seinen Einzug in Brüssel und leistete den Eid auf die neue Verfassung; durch seine Vermählung mit einer Tochter Ludwig Philipps sicherte er sich die einflußreichen französischen Sympathien.
Aber noch einmal kam es zu blutigem Konflikt. Holland verwarf die 18 Artikel, von neuem rückten holländische Truppen unter dem Prinzen von Oranien in ein, schlugen und zersprengten die belgischen bei Hasselt u. Löwen (August 1831), und erst nach dem Einrücken französischer Hilfstruppen unter dem Marschall Gérard und auf das Andringen der Gesandten Englands und Frankreichs zogen sich die holländischen Truppen wieder über die Grenze zurück. Doch beharrte Holland auch jetzt noch bei seiner Verwerfung der 18 Artikel und lehnte selbst die von der Konferenz 6. Okt. beschlossenen und für endgültig erklärten und von Belgien angenommenen 24 Artikel ab, wonach Luxemburg und Limburg unter Holland und Belgien geteilt werden und letzteres jährlich 8,400,000 Fl. als Zinsen seines Anteils an der holländischen Staatsschuld bezahlen sollte.
Diese Renitenz bewog die Konferenz zur Ergreifung von Zwangsmaßregeln gegen Holland: eine englisch-französische Flotte blockierte die Schelde und die holländische Küste, und rückten abermals französische Truppen unter dem Marschall Gérard in ein. Dieselben eroberten nach 24tägiger Belagerung im Dezember die noch von den Holländern besetzte Citadelle von Antwerpen. Da Österreich, Preußen und Rußland den Traktat der 24 Artikel noch nicht ratifiziert hatten, so schlossen England, Frankreich und Holland einen Präliminarvertrag ab, welcher auf beiden Seiten den gewaltsamen Maßregeln ein Ende machte.
Aber eine definitive Entscheidung kam auch jetzt noch nicht zu stande, sondern der sogen. Status quo dauerte noch fünf Jahre lang, und währenddessen blieb Holland vorerst im Besitz der die Schelde beherrschenden Forts Lillo und Liefkenhoek; Belgien dagegen behielt Luxemburg, außer der Festung, und Limburg. Noch einmal, Ende 1837, kam es zu kriegerischen Rüstungen, da Holland auf den Grunewald, der innerhalb des Festungsrayons von Luxemburg lag, Anspruch machte; doch wurde der Streit durch Intervention Englands und Frankreichs beigelegt. So sah sich das Haager Kabinett doch zuletzt zur Annahme der 24 Artikel genötigt. Da nun aber damit die Räumung Limburgs und eines Teils von Luxemburg von seiten Belgiens erfolgen mußte, welche Volk, Kammer und Regierung einmütig verweigerten, so drohte der Krieg noch einmal auszubrechen.
Schon wurden Truppen zusammengezogen und der polnische General Skrzynecki an die Spitze des belgischen Aufgebots gestellt, als wieder das energische Auftreten der Großmächte, welche die immerwährende Neutralität Belgiens garantiert hatten, einen Zusammenstoß verhinderte; aber erst nahmen die belgischen Kammern den 24-Artikel-Vertrag definitiv an. Luxemburg und Limburg wurden danach zwischen und Holland geteilt. Eine für Belgien etwas günstigere Vereinbarung hinsichtlich seines Anteils an der holländischen Staatsschuld kam erst zu stande. So war endlich der äußere Bestand des Königreichs reguliert worden.
Die innere Entwickelung der Verhältnisse in Belgien wurde beherrscht durch den Gegensatz zwischen der liberalen und der klerikalen Partei, welche sich zum Sturz der holländischen Herrschaft vereinigt hatten, von da an aber notwendig in Feindschaft geraten mußten, als beide bei der innern Gesetzgebung namentlich im Unterrichtswesen ihre Prinzipien zur Geltung zu bringen suchten. Der Kampf begann schon unter dem 1834 gebildeten, wesentlich der katholischen Richtung zugeneigten Ministerium de Theux-Muelenaere; die frühere Union löste sich auf, der Klerus ward in der »Revue nationale« heftig angegriffen, so daß es sogar an mehreren Orten zu tumultuarischen Auftritten kam. So mußte das Ministerium im März 1840 seine Entlassung geben und wurde durch das liberale Ministerium Lebeau-Rogier ersetzt, welches ein Amnestiegesetz erließ, aber auch bald genug auf Opposition stieß.
Eine Adresse des Senats an den König vom worin derselbe aufgefordert ward, die zur Beseitigung des Zwiespalts im Schoß der Nationalrepräsentation dienlichen Mittel zu ergreifen, war im wesentlichen ein Mißtrauensvotum gegen das Ministerium, und als der König nicht zur Auflösung der Kammern oder wenigstens des Senats schritt, trat das Ministerium (April) zurück, und ein neues, sogen. gemäßigt liberales, das aber ein Transaktionskabinett im Sinn der alten Union war, wurde durch Nothomb gebildet, 1841 und wieder 1843. Allein der Kampf dauerte fort und äußerte sich bei den Wahlen der Abgeordneten in sehr erregter
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Weise. So gar eine orangistische Verschwörung wurde entdeckt, an deren Spitze die Generale Vandermer und Vandersmissen standen. Von besonderer Wichtigkeit waren unter dem Ministerium Nothomb die am mit Frankreich und mit dem Deutschen Zollverein abgeschlossenen Handels- und Zollverträge, wodurch der belgische Handel bedeutet in Aufschwung kam. Infolge der Wahlen von 1845 trat das Ministerium Nothomb zurück. Nur von kurzem Bestand war das im Juli 1845 berufene liberale Ministerium van de Weyer, das schon im März 1846 durch ein katholisches unter de Theux ersetzt ward, welches aber bereits 1847 wieder einem liberalen Ministerium Rogier weichen mußte.
Damit kam der auf die Mehrheit des Volks sich stützende Liberalismus ans Ruder; freilich war noch manche Schwierigkeit zu überwinden, zumal die Erste Kammer sich widerspenstig zeigte. Indessen leistete die neue Regierung nicht wenig in der Richtung besonnenen freiheitlichen Fortschritts, suchte die Übergriffe des Klerus in würdiger Weise zurückzuweisen und traf Einrichtungen zur Hebung der Volksbildung, des Wohlstandes und der kommunalen Autonomie. Das Kabinett war daher im Revolutionsjahr 1848 so fest begründet, daß es ohne Anstoß sich erhielt, und die Dynastie genoß solches Vertrauen, daß der König ohne Bedenken die Beibehaltung seiner Krone von dem Willen des Volks abhängig machen konnte.
Ohne Schwierigkeiten wurden die geforderten Summen für Erhaltung der belgischen Unabhängigkeit und für Militärbedürfnisse verwilligt, und als Ende März 1848 ein Haufe Arbeiter von der französischen Grenze her in Belgien eindrang, um das Land zu revolutionieren, zeigten sich keine Sympathien, und die Eindringlinge wurden ohne Mühe durch die belgischen Truppen zersprengt. Neue Unterstützung fand das Ministerium durch die Wahlen von 1848, wodurch die Opposition auf weniger als ein Dritteil der Stimmen beschränkt ward. So konnte 1850 das Gesetz über den mittlern Unterricht in freiheitlichem Sinn zu ungunsten des Klerus entschieden werden.
Trotz mancher Personalveränderungen und trotz der durch das Militärbudget herbeigeführten Krisis behauptete sich das Ministerium; die Handelsverträge wurden gesichert, die Gewerbesteuer erleichtert, eine Nationalbank gegründet, die Brieftaxe auf die Hälfte herabgesetzt. Auch die Schwierigkeiten, welche der französische Staatsstreich verursachte, und welche namentlich die Behandlung der politischen Flüchtlinge betrafen, wurden durch die besonnene Haltung der Regierung überwunden, obwohl zum Schutz des Landes ein Kredit von 4,700,000 Fr. verlangt und ein verschanztes Lager bei Antwerpen errichtet wurde.
Zugleich gelang es, mit dem bis dahin Belgien abgeneigten Rußland in bessere Beziehungen zu treten, weshalb die im belgischen Heer dienenden polnischen Offiziere entlassen wurden. Dennoch sah sich infolge einer Niederlage bei der Wahl des Kammerpräsidenten im September 1852 das Ministerium veranlaßt, abzudanken, und an seine Stelle trat ein gemäßigt liberales, an dessen Spitze Brouckère als Minister des Auswärtigen stand, und welches die kommerziellen Verhältnisse mit Frankreich in befriedigender Weise regelte. Die Annexionsgelüste des neuen französischen Kaisers aus dem Napoleonischen Haus waren König Leopold und der belgischen Regierung wohlbekannt. Sie hüteten sich aber wohl, durch voreiliges Lärmschlagen dieselben herauszufordern und vielleicht ihre Verwirklichung zu beschleunigen.
Nachdem das Kabinett Brouckère infolge einiger an sich unbedeutender Differenzen mit der Kammer im März 1855 zurückgetreten war, berief der König ein gemäßigtes, doch in der Hauptsache der katholischen Partei zugeneigtes Kabinett, in welchem de Decker das Innere, Graf Vilain XIV. das Auswärtige übernahmen. Zwar suchte die neue Regierung den ultramontanen Übergriffen zu begegnen, konnte aber doch nicht das volle Vertrauen der Liberalen gewinnen, obwohl mehrere Abstimmungen zu gunsten des Ministeriums ausfielen und die Kammer sogar das Examengesetz genehmigte, welches die Maturitätsprüfung für die Universitäten abschaffte und in seinen Konsequenzen dem klerikalen Unterrichtswesen zu großem Vorteil gereichte.
Nach außen bewahrte das Kabinett eine feste Haltung und wies namentlich die nicht undeutlichen Absichten der französischen Regierung, in Belgien eine Beschränkung der Preßfreiheit durchzusetzen, mit aller Entschiedenheit zurück. So zeigten sich denn auch die Sympathien für König Leopold in hohem Maß bei seinem begangenen 25jährigen Regierungsjubiläum. Allein das öffentliche Vertrauen ging dem Ministerium verloren bei der Vorlegung des Gesetzes über die Organisation des Stiftungswesens und der Wohlthätigkeitsanstalten, für welche die Staatsaufsicht beseitigt wurde, worin man eine Herstellung der Toten Hand und eine unverantwortliche Unterstützung des Klerus und des Mönchswesens erblickte.
Schon in der Kammer zeigte sich das Mißtrauen, und sie wurde im Sommer 1856 vertagt. Als aber die Hauptartikel des Gesetzes mit 60 gegen 44 Stimmen angenommen wurden, brach die allgemeine Unzufriedenheit los; in mehreren Städten kam es zu Mißhandlung der Mönche und zu Tumulten, welche durch Waffengewalt unterdrückt werden mußten. Indessen durch die Schließung der Session und durch einen im »Moniteur« veröffentlichen Brief des Königs an den Minister de Decker, der einen tiefen Eindruck machte, wurde die Ruhe wiederhergestellt; gleichwohl sah sich, zumal als die Gemeinderatswahlen im Oktober 1857 in antiklerikalem Sinn ausfielen, das Ministerium zum Rücktritt veranlaßt
An seine Stelle trat ein liberales Ministerium unter Rogier. Die Kammer wurde aufgelöst, und durch die Neuwahlen ergab sich eine liberale Majorität von 70 Stimmen gegen 38. Das neue Ministerium mußte seine Thätigkeit mit einer Beschränkung der Preßfreiheit beginnen, indem es auf Verlangen der französischen Regierung, welche durch das Orsinische Attentat erschreckt war, die Verfolgung der Beleidigung fremder Monarchen auch ohne Antrag der Beleidigten anordnete.
Auch beschloß es, die Befestigungsfrage in die Hand zu nehmen. Die bisherigen Festungen an der Südgrenze gegen Frankreich waren veraltet; auch ihr Umbau war nicht zweckmäßig, da ihre große Zahl die ganze belgische Streitmacht erfordert, diese zersplittert und das Land selbst gänzlich wehrlos gemacht hätte. Es erschien daher zweckmäßiger, diese festen Plätze im Süden aufzuheben und Antwerpen, das sich mehr und mehr zu einem großartigen Handelsemporium entwickelte, zu einer bedeutenden Festung umzugestalten, welche im Notfall der belgischen Armee einen Stützpunkt gewähren und die Verbindung mit der See aufrecht erhalten konnte. Die Verwirklichung dieses Plans erforderte jedoch beträchtliche Geldmittel und mußte daher die Opposition gegen die Regierung verstärken; ferner stieß sie in Antwerpen selbst, wo man allerhand Nachteile und Gefahren von der Befestigung, welche die
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Kammer im wesentlichen genehmigt hatte, befürchtete, auf so große Unzufriedenheit, daß dort 1863 anstatt der bisherigen Abgeordneten, unter ihnen Rogier selbst, nur oppositionelle gewählt wurden. Überhaupt war der Ausfall der Wahlen 1863 infolge der Umtriebe der Klerikalen dem Ministerium so ungünstig, daß dasselbe im Januar 1864 seine Entlassung nahm. Nach längerer Ministerkrisis, während welcher die Bildung eines klerikalen Kabinetts fehlgeschlagen war, blieb das Ministerium Rogier; ein von Nothomb beantragtes Mißtrauensvotum fiel mit Einer Stimme durch, das rückständige Budget wurde genehmigt.
Neue Streitigkeiten entstanden, als der liberale Abgeordnete von Brüssel, Orts, ein neues Wahlgesetz beantragte, das eine Vermehrung der Zahl der Abgeordneten bezweckte. Da dessen Annahme zunächst für die liberale Partei vorteilhaft sein mußte, so machte die Rechte durch ihre Sezession aus der Kammer einen Beschluß unmöglich Infolgedessen wurden Neuwahlen angeordnet, welche günstig für das Ministerium ausfielen, indem 64 Liberale gegen 52 Klerikale gewählt wurden. Die befestigte Majorität bewilligte nun die Geldmittel für die Vollendung der Befestigung Antwerpens.
Am starb, allgemein betrauert, König Leopold I.; 17. Dez. legte der neue König, Leopold II., seinen Eid auf die Verfassung ab. Er sprach dabei nicht nur seinen aufrichtigen Willen aus, die streng konstitutionelle Haltung seines Vaters beizubehalten, sondern betonte auch mit besonderm Nachdruck die Wahrung der Unabhängigkeit der Nation. Die liberale Partei, welche im Ministerium durch den Eintritt Baras an die Stelle von Tesch verstärkt worden war, brachte nun endlich den Ortsschen Antrag durch.
Als im Frühjahr 1867 die Luxemburger Frage auftauchte, nahm an der zur Schlichtung derselben zusammengetretenen Londoner Konferenz teil, ohne aber die Garantie für die Neutralität Luxemburgs zu unterzeichnen. Die Besorgnis vor den französischen Annexionsgelüsten war in Belgien seit den Ereignissen in Deutschland 1866 gestiegen; man fürchtete, Belgien werde ein Kompensationsobjekt bei einer Verständigung zwischen Frankreich und Preußen abgeben müssen. Der Gedanke einer Heeresreform fand daher auch in der Kammer Anklang, und nachdem im Mai 1867 der Regierung für diesen Zweck ein Kredit von 60 Mill. bewilligt worden war, wurde im April 1868 das Jahreskontingent von 10,000 auf 12,000 Mann, die Präsenzzeit auf 30 Monate erhöht.
Beunruhigend war eine Zeitlang der im Februar 1869 ausgebrochene Eisenbahnstreit zwischen Frankreich und Belgien, welcher darin seine Ursache hatte, daß die belgische Regierung dem Übergang der Luxemburger Eisenbahn an die Compagnie de l'Est français entgegentrat. Doch wurde (trotz der anfänglich drohenden Stellung Frankreichs) der Streit durch persönliche Unterhandlungen zwischen der französischen Regierung und Frère-Orban, der seit 1867 an Rogiers Stelle getreten war, glücklich beigelegt, nachdem das belgische Ministerium im Februar 1869 durch ein besonders von den Kammern gebilligtes Gesetz sich für die Zukunft das Recht der Genehmigung solcher Abtretungen gesichert hatte.
Nach 13jährigem erfolgreichen Wirken mußte das Kabinett zurücktreten, da die Ergänzungswahlen (17. Juni) infolge des Hochdrucks der Klerikalen ungünstig ausgefallen waren. An seine Stelle trat das katholische Ministerium d'Anethan, welches sich durch angeordnete Neuwahlen die Majorität in der Kammer sicherte. Der deutsch-französische Krieg gebot innere Ruhe, und so scheute man eine neue Ministerkrisis. Zur Aufrechterhaltung des Friedens an den Grenzen und der Neutralität wurde ein Kredit von 15 Mill. Fr. verlangt, die Armee mobil gemacht und ein besonderer Vertrag durch Englands Vermittelung geschlossen, in welchem Frankreich und Preußen diese Neutralität aufs neue anerkannten. Die belgische Regierung erfüllte auch auf die loyalste Weise die Pflichten, welche aus dieser Stellung gegenüber den kriegführenden Mächten hervorgingen, obwohl die Bevölkerung wiederholt französische Sympathien an den Tag legte. Der von dem Kabinett eingebrachte Gesetzentwurf, wonach das Wahlrecht in demokratischem Sinn umgeändert und dadurch vom Klerus abhängig werden sollte, wurde trotz heftiger Opposition der liberalen Partei angenommen. Indessen mußte doch das Kabinett abtreten infolge der Ernennung Peter de Deckers zum Gouverneur von Limburg, eine Ernennung, welche allgemein böses Blut machte, weil de Decker in den Langrand-Dumonceauschen Finanzschwindel verwickelt war. Obgleich der Antrag Baras, daß die Kammer die Anstellung de Deckers bedaure, durchfiel, konnte sich doch das Ministerium, dessen Präsident d'Anethan selbst sich an dem Langrandschen Geschäft beteiligt hatte, nicht länger halten. Die Straßentumulte in Brüssel nahmen täglich zu, und so entließ der König das Ministerium d'Anethan und berief ein etwas gemäßigteres klerikales Kabinett unter de Theux, dem, als er 1874 starb, d'Aspremont-Lynden folgte; das begabteste Mitglied des Ministeriums war Malou. Die Heeresreform vermochte das neue Ministerium nicht gründlich durchzuführen, gegen die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht nach deutschem Muster sträubte sich die herrschende Partei. Das neue Militärgesetz, das General Thiébault, der Kriegsminister, 1873 den Kammern vorlegte, suchte daher nur die Schäden des Stellvertretungswesens abzuschwächen und wurde, obwohl es 4 Mill. Mehrkosten verursachte, von den Kammern angenommen. Den meist ultramontanen Vlämen wurde das Zugeständnis gemacht, daß in den vlämischen Provinzen die vlämische Sprache vor Gericht zulässig sein solle.
Der lange zurückgedrängte Klerus machte sich nun die Herrschaft der ultramontanen Partei zu nutze, um in Belgien das Ideal eines ultramontanen Staats zu verwirklichen. Er beherrschte das ganze Volksschulwesen, hatte seine besondern von Jesuiten geleiteten Gymnasien und eine eigne Universität, welche Anstalten weit stärker besucht waren als die vom Staat geleiteten. Die Zahl der Klöster war binnen 20 Jahren von 779 mit 11,968 Mönchen und Nonnen auf 1700 mit 22,600 Mönchen und Nonnen gestiegen, und in diesen Klöstern wurde die ganze weibliche Jugend aller Stände erzogen.
Die Gemeinderats- und Kammerwahlen waren großenteils von dem Klerus abhängig. Die Gesetze wurden von den Klerikalen nur so weit respektiert, als sie ihren Grundsätzen entsprachen. So wurden 1873 von den Kirchhöfen, die in Belgien Gemeindeeigentum ohne konfessionellen Charakter sind, wiederholt solche Tote, welche im Leben sich der Kirche nicht gefügt hatten, ausgeschlossen oder nur unter beleidigenden Formalitäten zugelassen und eine Beschwerde darüber von der Kammer zurückgewiesen. Die Ursache dieser Mißstände lag in dem in die Verfassung aufgenommenen sehr bedenklichen Grundsatz von der Selbständigkeit der Kirche, von der Trennung der Kirche vom Staat, einem Grundsatz, welcher jahrzehntelang als staatsmännische Weisheit und als ein besonderer Vorzug Belgiens galt. So
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war es nicht zu verwundern, wenn nach Erlaß des deutschen Jesuitengesetzes und der preußischen Maigesetze die belgische Presse eine sehr heftige Sprache gegen Deutschland führte, obgleich Belgien die Wahrung seiner Unabhängigkeit gegenüber den französischen Eroberungsplänen nur der Haltung Deutschlands zu danken hatte. Daß auch die offiziöse Presse und die Bischöfe in ihren Hirtenbriefen dieses Beispiel nachahmten, ja Adressen an die preußischen Bischöfe erlassen wurden, welche diese zur weitern Auflehnung gegen die Staatsgesetze aufforderten, veranlaßte den deutschen Reichskanzler 1874 und 1875 zu diplomatischen Schritten beim belgischen Ministerium, welche zur Folge hatten, daß die Sprache mäßiger wurde.
Die Mißstimmung im Land gegen die Herrschaft der klerikalen Partei wuchs inzwischen und verhalf den Liberalen bei den Gemeindewahlen zu mehreren Siegen. Auch vollzog sich allmählich eine Annäherung zwischen den vlämischen und den wallonischen Liberalen, welche die schroff ablehnende Haltung der alten Doktrinäre gegen die vlämische Sprache aufgaben. Aber die Hoffnung, daß schon bei der Neuwahl der Hälfte der Kammern die klerikale Majorität gestürzt werden könne, erfüllte sich noch nicht.
Durch rücksichtslosen Terrorismus und offenbare Wahlkorruption errang der Klerus namentlich in Antwerpen wiederum den Sieg. Bara beantragte im Namen der Liberalen nach Eröffnung der Kammern 14. Nov. die Beanstandung der Wahlen in Antwerpen, Brügge und Ypern, indem er die von der Geistlichkeit ausgeübte Wahlkorruption enthüllte. Aber die Wahlen wurden 23. Nov. sämtlich von der klerikalen Majorität genehmigt, und Malou versprach nur fürs nächste Jahr Vorlegung eines Gesetzentwurfs zur Bekämpfung der Wahlkorruption. Dieses Gesetz, welches übrigens auch die Zahl der städtischen Deputierten vermehrte, ward mit 73 gegen 22 Stimmen von der Zweiten Kammer angenommen, nachdem Malou einen Paragraphen, welcher die Beeinflussung der Wahlen im Beichtstuhl für erlaubt erklärte, zurückgezogen hatte.
Diese Nachgiebigkeit gegen die Liberalen erbitterte die Geistlichkeit aufs höchste. Die eigentlichen Ultramontanen waren überhaupt mit der Regierung, so willfährig sie sich auch gezeigt hatte, in keiner Weise zufrieden. Während sie früher die belgische Verfassung mit dem Grundsatz der Freiheit der Kirche als Muster hingestellt, Preß- und Vereinsfreiheit gepriesen hatten, erklärten sie nun, da die Kirche ihre Freiheit zu einer Ungeheuern Machtentfaltung benutzt hatte und der Papst in Belgien mächtiger war als in Rom selbst, da sie mithin hoffen konnten, Belgien zu einem zweiten Kirchenstaat umzugestalten, diese vielgerühmte Verfassung für gottlos und mit den Rechten der Kirche unvereinbar und forderten, daß die politischen und sozialen Verhältnisse nach den Vorschriften des Syllabus geordnet werden müßten.
Diese Ausschreitungen schwächten jedoch die Klerikalen als politische Partei und stachelten die Liberalen zur Einheit und zur äußersten Kraftanstrengung bei den Ergänzungswahlen an, welche stattfanden. Und wirklich errangen die Liberalen einen über alle Erwartung glänzenden Sieg, indem ihnen namentlich Antwerpen zufiel, so daß sie im Senat eine Majorität von sechs, in der Zweiten Kammer eine von elf Stimmen erhielten. Am 12. Juni reichte das Ministerium d'Aspremont-Lynden-Malou seine Entlassung ein, und der König beauftragte Frère-Orban mit der Bildung eines neuen Kabinetts, welches 20. Juni zu stande kam.
Die Kammern wurden im Juli zu einer außerordentlichen Sitzung zusammenberufen und genehmigten vor allem die Errichtung eines Unterrichtsministeriums, um ein neues Unterrichtsgesetz auszuarbeiten, das die Herrschaft des Klerus über die Schule einzuschränken bestimmt war. Das neue Gesetz ward den Kammern 1879 vorgelegt; es ging im wesentlichen auf das Gesetz von 1842 zurück, das der Klerus bisher einfach unbeachtet gelassen, erneuerte und verschärfte die Bestimmungen über die Staatsaufsicht und beschränkte die Thätigkeit der Geistlichkeit auf den Religionsunterricht.
Das Gesetz ward nach langen Debatten von den Kammern genehmigt und verkündet. Der Klerus erhob nicht bloß Protest, sondern belegte die Staatsschulen ohne weiteres mit dem Bann, um die Eltern zu zwingen, ihre Kinder in die freien, vom Klerus errichteten Schulen zu schicken. Indes hatte er dabei keinen durchschlagenden Erfolg. Die Regierung blieb fest. Sie versuchte anfangs, den Papst Leo XIII. zu veranlassen, daß er mäßigend auf die belgische Geistlichkeit einwirke.
Dieser ging scheinbar darauf ein. Als die Regierung aber 1880 erkannte, daß die römische Kurie heimlich den Widerstand der Bischöfe sogar gebilligt hatte, trug sie kein Bedenken, die diplomatischen Beziehungen zum päpstlichen Stuhl abzubrechen. Im J. 1881 wurde die Zahl der Staatsgymnasien (Athenäen) verdoppelt. Am Wahlgesetz wurden mehrere Änderungen vorgenommen, um der ultramontanen Korruption vorzubeugen. An der Durchführung des Schulgesetzes wurde eifrig gearbeitet, um das Volk von den klerikalen Fesseln zu befreien. Die öffentliche Meinung schien durchaus auf seiten der liberalen Regierung zu stehen. Die Feier des 50jährigen Bestandes der belgischen Unabhängigkeit im August 1880 war eine glänzende.
Ein wunder Punkt für das Ministerium Frère-Orban waren die Finanzen; das Defizit im Staatshaushalt wuchs mit jedem Jahr, und man sah sich zu neuen Steuern und zur Erhöhung bestehender genötigt. Um so wirksamer war die Agitation der Ultramontanen gegen die Staatsschulen, welche das Budget allerdings mit großen Kosten belasteten. Dazu kam, daß eine radikale Fraktion unter Führung des Brüsseler Deputierten Janson die Einheit in der liberalen Partei durch unzeitgemäße Anträge störte und besonders durch das Verlangen des allgemeinen Wahlrechts bei den Kammerwahlen die besitzenden Klassen beunruhigte.
Die Neuwahlen für die Deputiertenkammer fielen daher zu ungunsten der Liberalen aus; namentlich verloren sie durch ihre Uneinigkeit sämtliche Sitze in Brüssel, die an eine sogen. Mittelpartei, verschämte Klerikale, fielen. Die Mehrheit der ultramontanen Partei betrug 32 Stimmen. Die im Juli folgenden Senatswahlen ergaben eine klerikale Majorität von 17 Stimmen. Das liberale Ministerium trat sofort ab und wurde durch ein streng ultramontanes unter Malou ersetzt.
Dieses stellte sofort die diplomatischen Beziehungen mit der römischen Kurie her und brachte ein Schulgesetz in den Kammern ein, welches den Gemeinden gestattete, die Staatsschule aufzuheben und eine klerikale freie Schule für die öffentliche zu erklären. Da die Stich- und Gemeindewahlen zeigten, daß das Land die schroffe Haltung der neuen Minister doch nicht billigte, so berief der König im Oktober 1884 ein gemäßigteres klerikales Kabinett unter Beernaert und Thonissen, welches das neue Schulgesetz in den Kammern zur Annahme brachte.
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Vgl. zur Geschichte: Moke, Histoire de la Belgique (7. Aufl., Gent 1881);
Juste, folgende Werke: »Histoire de la Belgique depuis les temps primitifs jusqu'à la fin du règne de Léopold I« (4. Aufl., Brüss. 1868, 3 Bde.);
»Histoire de la fondation de la monarchie belge« (3. Aufl. 1880, 2 Bde.; deutsch 1854),
»Les fondateurs de la monarchie belge« (eine Sammlung von Biographien, 1866-81, Bd. 1-25) und »La révolution belge de 1830« (1872, 2 Bde.);
Thonissen, La Belgique sous le règne de Leopold I (2. Aufl., Brüss. 1862);
Nothomb, Essai historique et politique sur la révolution belge (4. Aufl., das. 1876, 2 Bde.);
Gachard, Histoire de la Belgique au commencement du XVIII. siècle (das. 1880);
Laveleye, Le congrès national de la Belgique 1830-31 (das. 1880);
Hymans, Histoire parlementaire de la Belgique 1831-80 (das. 1878, 5 Bde.);
»Patria belgica. Encyclopédie nationale« (hrsg. von Bemmel u. a., das. 1875, 3 Bde.);
»La Belgique et le Vatican« (anonym, das. 1881, 2 Bde.);
Jourdain, Histoire du commerce et de la marine de la Belgique (das. 1861-64, 3 Bde.);
Barlet, Histoire du commerce et de l'industrie de la Belgique (3. Aufl., Mecheln 1885).