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eigentümliche, von der französischen Behandlungsweise völlig abweichende Richtung an, indem jenes Streben nach einer reichern, mannigfaltigern Gliederung und Teilung der Formen, einer buntern und mehr spielenden Ornamentik, welches bereits bei den romanischen Bauten in England hervorgetreten war, auch den Charakter des germanischen Stils bestimmte. Aber wie früher, so gelangte auch jetzt die englische Architektur, einzelne Ausnahmen abgerechnet, nicht zu einer vollständig organischen Durchbildung.
Der Reichtum der Formen, mit welchen die Gebäude geschmückt wurden, war nicht das Erzeugnis einer innern, gewissermaßen naturnotwendigen Entwickelung, sondern eines mehr oder weniger willkürlichen Formenspiels. Für den ersten Beginn der gotischen [* 2] in England sind die Kathedrale von Canterbury und die Templerkirche zu London [* 3] von Bedeutung; der ersten Hälfte des 13. Jahrh. gehört unter andern die Kathedrale von Salisbury an, die, aus Einem Guß, die erste selbständige Entwickelung des englisch-gotischen Baustils im ganzen wie in allen seinen Einzelheiten darstellt.
Für eine strengere Organisation des gotischen Baustils gibt die Kathedrale von Exeter, deren wesentliche Teile 1280-1370 erbaut wurden, ein sehr bezeichnendes Beispiel, während die 1270 begonnene Westminsterkirche zu London sich besonders, was die Anordnung des Grundrisses betrifft, dem System der französischen Kathedralen nähert. Die edelste und reinste Durchbildung des gotischen Baustils zeigt sich im Schiff [* 4] der Kathedrale von York (1291-1330), deren prächtige Fassade auf Tafel X, [* 1] Fig. 1, dargestellt ist, und in dem gleichzeitig erbauten Kapitelhaus derselben Kirche, wo sich die Behandlung der meist nur in Deutschland [* 5] heimischen organischen Durchbildung des Stils nähert.
Manche entsprechende Motive finden sich an den malerischen Ruinen der Abtei von Tintern (unfern Monmouth), der Abtei von Netley (unfern Southampton), der Kapelle von Holyrood zu Edinburg, [* 6] der Abtei von Melrose (am Tweed, Grafschaft Roxburgh) u. a. An einzelnen Monumenten der letzten Periode des gotischen Stils entfaltet sich in England das eigne dekorative Element zu nirgends sonst erreichtem Glanz und Reichtum, besonders in der Ausbildung des sogen. Sterngewölbes.
Als die ersten Beispiele dieser zierlichen Behandlungsweise sind der Kreuzgang der Kathedrale von Gloucester (1381), die Lady Chapel (Marienkapelle) der Kathedrale von Peterborough und die Kapelle des heil. Georg zu Windsor zu nennen. Das edelste und durchgebildetste Beispiel dieser Gewölbebildung enthält die Kapelle des King's College zu Cambridge (begonnen 1441, beendet 1530), und bis zur überschwenglichen Pracht entfaltet erscheint dieselbe an der gleichzeitigen Begräbniskapelle Heinrichs VI. an der Westminsterkirche zu London. Die Engländer teilen die Entwickelung ihrer Gotik gewöhnlich in drei Perioden: early english (früh englisch, 13. Jahrh.), decorated style (der verzierte Stil, 14. Jahrh., Hauptwerk die Fassade der Kathedrale zu York) und perpendicular style (15. und 16. Jahrh.).
In Deutschland kam der gotische Baustil zwar etwas später als in Frankreich und in England zur Entfaltung und allgemeinen Anwendung, jedoch hat er hier am herrlichsten sich durchgebildet und das Kolossalste geschaffen. Die ältesten in Deutschland bekannten Beispiele der gotischen Architektur zeigen uns diesen Stil noch im Kampf mit den Hauptformen des romanischen. Als wichtigste Beispiele für das erste Auftreten desselben in Deutschland sind das Schiff der Kirche zu St. Gereon in Köln [* 7] (1212-27), der 1208 oder 1211 begonnene Dom von Magdeburg [* 8] und die alte Pfarrkirche zu Regensburg [* 9] zu nennen, welch letztere im Innern noch mit Pfeilern statt der Säulen [* 10] versehen ist.
In den westlichen Gegenden von Deutschland ist die 1227-44 erbaute Liebfrauenkirche zu Trier [* 11] von großer Wichtigkeit. Schlichter und klarer gestaltet sich der gotische Baustil an der Elisabethkirche zu Marburg [* 12] (1235-83), in vollständiger, durchaus harmonischer und höchst grandioser Entfaltung aber am Dom von Köln, 1248 gegründet, dem vollendetsten Meisterwerk der gotischen Architektur (s. Tafeln »Kölner [* 13] Dom I u. II« bei Art. »Köln«). Als unerreichtes Muster künstlerischer Konzeption zeigt sich uns der Entwurf der Fassade mit den beiden mächtigen Türmen; im völligen Gegensatz gegen das zerteilende und trennende Galeriewesen des französischen Fassadenbaues steigt hier das Ganze unendlich zergliedert, aber in durchaus stetiger Entwickelung und mit stetem Bezug auf den höchsten Gipfelpunkt empor. Die auf Tafel I und II dargestellte West-, Süd- und Ostfassade und innere Ansicht geben ein Bild dieser ebenso reichen wie harmonischen Gesamtwirkung im Äußern und Innern, während der Querschnitt (s. Tafel II, [* 1] Fig. 4) nicht nur die ebenso statisch motivierte wie künstlerisch durchgebildete Übertragung des Druckes der Mittelschiffgewölbe durch Strebebogen auf die innern und äußern Pfeiler der Querschiffe vorführt, sondern auch die gegliederte, an allen Seiten abgewalmte Dachkonstruktion der letztern zeigt, durch welche die reiche Gliederung der Wände des Mittelschiffs bedingt wird.
Die reich und edel durchgeführten Detailformen der Pfeiler, Wimpergen, Strebebogen, Krabben und Kreuzblumen sind auf Tafel II, [* 1] Fig. 5-10 dargestellt. Neben dem Kölner Dom ist zunächst die Kirche der Cistercienserabtei Altenberg bei Köln zu nennen, deren Hauptanlage, was namentlich das Chor betrifft, mit der des erstern übereinstimmt. Nahe Verwandtschaft verrät die Kathedrale von Metz, [* 14] und in reich entwickelter, doch schon beträchtlich späterer Ausbildung zeigt sich eine Nachahmung des Systems des Kölner Doms an der Kollegiatkirche von Xanten.
Von höchster Bedeutung für die weitere Entwickelung der Stilform der deutsch-gotischen Baukunst ist ferner die Katharinenkirche zu Oppenheim, obgleich dies Gebäude keineswegs als ein organisches Ganze zu betrachten ist, der sich als ein Beispiel reiner und edler Entfaltung des Stils die Kirche von Wimpfen im Thal [* 15] (1262-1278) anreiht. Von Bedeutung sind ferner das Schiff des Münsters zu Freiburg [* 16] i. Br. und das des Münsters von Straßburg, [* 17] dessen Fassade im wesentlichen das Vorbild des französischen Kathedralstils befolgt, insofern sie, statt das Gesetz einer durchgehenden, aufwärts strebenden Entwickelung (wie am Kölner Dom) zur Erscheinung zu bringen, trennende Galerien und ein großes Radfenster [* 18] zeigt.
Unter die frühern Bauten des gotischen Stils in den sächsischen und thüringischen Gegenden gehören, außer dem Dom von Magdeburg, das Chor der Kirche von Schulpforta (1251-68) und das etwa gleichzeitige Westchor des Doms von Naumburg, [* 19] welche beide noch mit einzelnen altertümlich strengen Motiven ausgestattet sind. Ebenfalls um die Mitte des 13. Jahrh. begann der Bau des Doms von Halberstadt [* 20] (mit Ausnahme des ältern Unterbaues der Fassade), während der Dom von Meißen [* 21] erst im Verlauf des 14. und 15. Jahrh. seine jetzige Gestalt erhielt und das 1349-53 erbaute Chor des Doms von Erfurt [* 22] als ein edles Werk jüngerer Zeit zu bezeichnen ist. Treffliche Beispiele für die weitere Gestaltung der deutsch-gotischen Architektur geben der um den Schluß der gotischen Periode ¶
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in seiner jetzigen Gestalt beendete Dom von Regensburg, der St. Stephansdom zu Wien, [* 24] der Dom zu Prag [* 25] (1343-85), das Münster [* 26] von Ulm, [* 27] 1377 gegründet. In Franken sind das zierliche Chor der Kirche von Weißenburg [* 28] (geweiht 1327), die Frauenkirche zu Nürnberg [* 29] (1355-61), die Lorenzkirche und das Chor der Sebalduskirche daselbst (1361-77), die Frauenkirche von Ingolstadt [* 30] (gegründet 1425), die Stadtkirche zu Wimpfen am Berg (gegründet 1494) zu nennen. Aus dem 14. und 15. Jahrh. stammen die Liebfrauenkapelle zu Würzburg [* 31] (1377-1409), die Kirche St. Martin zu Landshut [* 32] (1432-78), die Frauenkirche zu München [* 33] (1468-94), dann weiter nordwärts die Peter- und Paulskirche (1423-97) und die Frauenkirche (1458-73) zu Görlitz, [* 34] das Schiff des Doms von Erfurt (1472), der Dom zu Freiberg [* 35] im Erzgebirge (nach 1484), das Schiff des Doms von Merseburg [* 36] (um 1500), die Marienkirche zu Zwickau [* 37] (1453-1536), die Liebfrauenkirche zu Halle [* 38] (1529), die Nikolaikirche zu Zerbst [* 39] (1446-94) u. a. Für die spätere Entwickelungszeit des gotischen Stils sind ferner jene dekorativen Architekturen bezeichnend, welche, wie die Lettner, Tabernakel u. dgl., zu kirchlichen Zwecken im Innern der Kirchen aufgeführt und reich mit plastischem Schmuck versehen wurden, während in den frühern Perioden solche Werke sehr selten sind.
Unter den spätgotischen Werken ähnlicher Art sind namentlich die Lettner im Dom von Magdeburg (begonnen 1448), im Dom von Halberstadt (beendet 1510) und der sogen. Apostelgang im Dom zu Münster hervorzuheben. An den Tabernakeln, so namentlich an dem berühmtesten Werk dieser Art in St. Lorenz zu Nürnberg, findet man nicht selten manche phantastisch barocke Formen. Ihre Anordnung, doch meist in einfacherer Behandlung, wurde auch für die an öffentlichen Straßen errichteten Heiligenhäuschen, wofür das in einfach reinem Stil gebildete sogen. Hochkreuz bei Godesberg unfern Bonn [* 40] (1333) und die sogen. Spinnerin am Kreuz [* 41] bei Wien interessante Beispiele darbieten, und bei öffentlichen Brunnen [* 42] beibehalten, unter welchen der um 1360 errichtete sogen. schöne Brunnen zu Nürnberg hervorragt.
Für die Dekoration der öffentlichen, zu städtischen Zwecken errichteten Gebäude und Privatwohnungen hat der deutsch-gotische Baustil manche treffliche Formen geschaffen, wie dies viele Werke dieser Art zu Regensburg, Ulm, Nürnberg, Frankfurt [* 43] a. M., Koblenz, [* 44] Münster u. a. O. bezeugen. In den an der Nordseite des Harzes gelegenen Städten ist für solche Gebäude meist ein hölzernes Fachwerk [* 45] angewandt, das zur Ausbildung einer zierlichen Holzarchitektur Veranlassung gegeben hat, deren bedeutendste Beispiele man zu Quedlinburg, [* 46] Braunschweig [* 47] und vorzugsweise zu Halberstadt findet.
Verhältnismäßig selten sind in Deutschland Rathäuser gotischen Stils, da die ältern Bauten dieser Art meist während der Renaissance umgestaltet worden sind. Ein hervorragendes Beispiel ist das Rathaus in Braunschweig, 1393 begonnen (s. Tafel X, [* 23] Fig. 2). Der in den Küstenländern der Ostsee und in einigen an dieselben angrenzenden Gegenden von Deutschland: in Holstein, Mecklenburg, [* 48] Pommern, [* 49] den brandenburgischen Marken, in Preußen, [* 50] auch (wie es scheint) in Kurland [* 51] und Livland sowie in den skandinavischen Ländern entwickelte gotische Baustil unterscheidet sich von derjenigen Ausbildung des Systems, die vornehmlich im westlichen Deutschland zur schönsten Blüte [* 52] gedieh, durch eine ungleich größere Schlichtheit und Strenge.
Während das Gefühl kühler und ruhiger ist und die lebhaft durchgeführte Gliederung des architektonischen Ganzen, die rhythmisch bewegte Entwickelung seiner Teile gegen die Massenwirkung zurücktreten, fehlt es keineswegs an künstlerischem Sinn, der sich sowohl in dem kräftigen Ernste der Hauptformen als in der großartigen Kühnheit der Verhältnisse ausspricht. Eins der großartigsten Werke dieser Art ist das Schloß von Marienburg, [* 53] dem die übrigen Burgen [* 54] des Deutschen Ordens zu Gollub, Poppowo, Kowalewo, Thorn, [* 55] Mewe, Rheden, Lochstädt verwandt sind.
In Italien [* 56] blieb man im wesentlichen zunächst bei den Bedingungen des romanischen Gewölbebaues stehen. Was man an Spitzbogen, Giebeln, Spitzsäulchen und an dekorierenden Formen unmittelbar von der gotischen Bauweise annahm und mit jenem Element verband, erscheint nur als eine äußerliche Huldigung, welche man dem allgemeinen Zeitgeschmack darbrachte. Der italienisch-gotische Baustil, wenn überhaupt von einem solchen die Rede sein kann, bildet kein in sich abgeschlossenes Ganze; vielmehr ist er, obgleich häufig mit reicher Dekoration versehen, in seinen wesentlichen Teilen meist roh und unentwickelt.
Eins der frühsten gotischen Monumente in Italien ist die Kirche San Francesco in Assisi, welche 1218-1230 durch einen Deutschen, Meister Jakob, erbaut sein soll; wenig jünger ist die Kirche Sant' Antonio zu Padua [* 57] (begonnen 1231, in ihren wesentlichen Teilen 1307 beendet), in deren Hauptformen noch gar kein gotisches Element hervortritt. Das Innere des Doms von Siena, der gegen die Mitte des 12. Jahrh. begonnen wurde, hat eigentümliche, edle Verhältnisse; die Ausbildung desselben ist aber im wesentlichen die italienische, während der Dom von Orvieto (1290 begonnen) im Schiff, den Basiliken vergleichbar, noch Rundsäulen und Halbkreisbogen besitzt.
Die Fassade des Doms von Siena ist auf Tafel X, [* 23] Fig. 6, abgebildet. Diesen Monumenten sind der Campo santo, die kleine Kirche Santa Maria della Spina zu Pisa [* 58] sowie der Dom von Arezzo und die Kirche Santa Maria Novella zu Florenz [* 59] (1279) anzureihen. Höchst einfach und streng erscheint die Kirche Santa Croce zu Florenz (1294) von Arnolfo di Cambio, von welchem 1296 auch der Dom Santa Maria del Fiore daselbst angelegt wurde, der eine reichere, aber ebenfalls unschöne Durchbildung des italienischen Systems zeigt.
Die Kirche San Petronio zu Bologna (begonnen 1390) ist ähnlich schwer, unorganisch in den Formen und gesperrt in den Verhältnissen wie der Dom zu Florenz. Das bei weitem großartigste aller kirchlichen Monumente gotischen Stils in Italien ist der 1386 gegründete und in seinen Hauptteilen am Schluß des 15. Jahrh. beendete Dom von Mailand, [* 60] neben welchem die 1396-1499 erbaute, zu den reichsten und bedeutendsten der Lombardei gehörende Kartause bei Pavia zu nennen ist.
Wie in der Dekoration der Kirchenfassaden, so entwickelt sich auch an den Palästen und öffentlichen Hallen von Italien der gotische Baustil nicht selten in eigentümlich glänzender Weise, indem sich seine Formen hier zu einem so harmonischen und anmutsvollen Ganzen gestalten, daß diese Beispiele als das Vollendetste zu bezeichnen sind, was der gotische Stil in Italien überhaupt hervorgebracht hat. Während der öffentliche Palast von Florenz (Palazzo vecchio) und der von Siena, beide dem 13. und 14. Jahrh. angehörig, noch als schwere, burgähnliche Massen erscheinen, zeichnet sich die Loggia dei Lanzi in Florenz durch edle, würdige Verhältnisse aus. Sehr bedeutend ist ferner die Börse (Loggia dei mercanti) zu Bologna. An den öffentlichen Palästen einiger lombardischer Städte, wie Como, Cremona, Piacenza, entwickelt sich eine ¶