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ist die Ziffer der Einwanderer aus Europa [* 2] gestiegen oder gefallen. Von großem Einfluß auf die Auswanderung ist die ganze geschichtliche Entwickelung eines Volks. So zeichnet sich die kinderreiche germanische Rasse durch einen traditionellen Wandertrieb aus, während der größte Teil der Slawen zwar zum Wandern innerhalb der Grenzen [* 3] des eignen Landes geneigt genug ist, zum Auswandern sich aber nur schwer entschließt. Von den romanischen Völkern sind die seßhaftesten die Franzosen, während der Italiener wieder leichter sein Vaterland verläßt.
Die deutsche Auswanderung nach Osten, d. h. nach Rußland, Ungarn [* 4] und Siebenbürgen, wurde angeregt durch die Herrscher jener Länder, welche menschenleere Gebiete zu bevölkern und ihre halbbarbarischen Unterthanen durch deutsche Kultur auf eine höhere Stufe zu heben gedachten. Die deutsche Auswanderung nach Westen, namentlich nach Nordamerika, [* 5] wurde ursprünglich veranlaßt durch politische und religiöse Bedrückung, durch Kriegs- und Hungersnot. Die große Hungersnot 1816-17 hob die bisher auf wenige Tausende beschränkte Auswanderung plötzlich auf 20,000 Seelen.
Dann sank letztere wieder, bis die Reaktionsperiode der 30er Jahre eine neue Steigerung brachte, die 1847 ihren Kulminationspunkt erreichte. Einen plötzlichen Sprung machte die Auswanderung abermals 1852, gelangte 1854 zu einer früher nicht annähernd dagewesenen Ziffer (127,694), um dann wieder rasch zu sinken, bis sie infolge des amerikanischen Bürgerkriegs 1861 auf die niedrigste Stufe (30,939) herabging. Die Beendigung dieses Kriegs ließ die Auswanderung schnell steigen, einen noch mächtigern Anstoß gab der Krieg von 1866, während der von 1870 bis 1871 ein schnelles Nachlassen zur Folge hatte. Kaum aber war der Krieg beendet, so hob sich die Auswanderung wiederum, bis sie 1872 das Maximum von 125,650 erreichte. Die auch Amerika [* 6] heimsuchenden Krisen hemmten den Auswanderungsstrom von neuem, bis der wunderbare wirtschaftliche Aufschwung der Union 1880 denselben zu einer alles früher Dagewesene überbietenden Mächtigkeit anschwellte (s. unten).
Die britische Auswanderung hat ihren Grund zwar zum Teil in ähnlichen Verhältnissen gehabt, zuerst in religiöser Unterdrückung, Hungersnot (1846); vornehmlich aber ist sie gefördert worden durch den britischen Kolonialbesitz [* 7] und durch die mit Nordamerika bestehende Stammesverwandtschaft. Seit 1863 sank die britische Auswanderung nur einmal (1877) unter 100,000. Nicht absolute Bevölkerungsdichtigkeit, wohl aber das Unvermögen einer sich schneller als andre mehrenden Volkszahl, unterstützt durch große Vertrautheit mit dem Meer, veranlaßt die skandinavischen Völker zur Übersiedelung nach überseeischen Ländern.
Und wenn die Schweiz [* 8] und Italien [* 9] jährlich verhältnismäßig hohe Kontingente zur Auswandererziffer liefern, so ist der Grund bei den einen wohl in dem höher entwickelten Unternehmungsgeist, bei den andern in einer gewissen Beengtheit und dadurch geschaffenen mißlichen Lage zu suchen. Österreich-Ungarn [* 10] hat noch weite Striche innerhalb seiner Grenzen zu bevölkern, noch mehr Rußland, bei welchem die Auswanderung sogar durch die Einwanderung übertroffen wird, während Frankreichs geringe Bevölkerungszunahme fast vollständig Raum findet in der durch stetige Kapitalbildung erweiterten und verbesserten Werkstatt des Volkslebens. Diese günstigen Bedingungen haben dem industriereichen Belgien [* 11] sogar schon seit Jahren eine beträchtliche Zuwanderung verschafft. Der beschränkte Raum der Heimat sendet alljährlich Scharen chinesischer Auswanderer nach allen Richtungen ins Ausland, wo diese mäßigen und arbeitsamen Menschen in erfolgreiche, ja bedrohliche Konkurrenz mit europäischer Arbeit treten.
Wie die beiden Faktoren: Volksvermehrung und die Möglichkeit, den Anforderungen zu genügen, welche eine steigende Bevölkerung [* 12] an das Leben stellt, die Auswanderung beeinflussen, mag nachstehende Tabelle zeigen:
Geburtenüberschuß und Auswanderung in neun Hauptgebieten.
Staaten | Geburtenüberschuß | Auswanderung | |||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Beobachtungsperiode | Zahl der Jahre | Mittl. Bevölkerungsziffer der Periode | Wirkliche Zahl für alle Jahre der Periode | Jährlich auf 1000 Einw. | Beobachtungsperiode | Zahl der Jahre | Wirkliche Zahl für alle Jahre der Periode | Jährlich auf 1000 Einw. | |
Großbritannien u. Irl. | 1872-82 | 11 | 33627000 | 4773946 | 13.89 | 1872-82 | 11 | 2142458 | 6.90 |
Deutschland | 1872-82 | 11 | 43767000 | 5927458 | 12.63 | 1872-82 | 11 | 923655 | 1.93 |
Italien | 1872-81 | 10 | 27630000 | 2020789 | 7.31 | 1876-82 | 7 | 255852 | 1.14 |
Schweden | 1871-81 | 11 | 4367000 | 587901 | 13.48 | 1871-81 | 11 | 148493 | 2.94 |
Norwegen | 1871-81 | 11 | 1833300 | 279225 | 14.23 | 1872-82 | 11 | 126914 | 6.35 |
Österreich | 1870-80 | 11 | 21270000 | 1818001 | 7.77 | 1870-80 | 11 | 77605 | 0.33 |
Dänemark | 1871-80 | 10 | 1877000 | 224300 | 11.95 | 1872-82 | 11 | 54258 | 2.56 |
Schweiz | 1871-80 | 10 | 2757000 | 201618 | 7.31 | 1872-82 | 11 | 53714 | 1.73 |
Frankreich | 1873-81 | 8 | 36887000 | 952488 | 3.23 | 1872-77 | 6 | 31692 | 0.13 |
Aus dieser Aufstellung geht hervor, daß die relative Stärke [* 13] der deutschen Auswanderung vielfach überschätzt wird. Namentlich wird dies klar, wenn wir die drei Teile des britischen Königreichs gesondert betrachten. Denn in der Periode 1871-82 nimmt Deutschland [* 14] unter sieben Staaten erst den sechsten Platz ein. Es stellt sich nämlich für jene Zeit die mittlere Zahl der Auswanderer, auf 1000 der mittlern Bevölkerung berechnet, bei Irland auf 1101, Norwegen [* 15] 635, Schottland 531, England 438, Dänemark [* 16] 256, Deutschland 193 und Schweiz 173. Deutschland stellt sich ferner für 1871-81 zu Schweden wie 170:294, für 1872-81 zu Portugal [* 17] wie 169:318.
Daß die den Staaten, zu denen sie sich wendet, in der Regel einen Vorteil bringt, ist leichtverständlich. Zur Auswanderung entschließen sich vorwiegend jüngere und kräftigere Elemente. So war in den 70er Jahren das Verhältnis des männlichen Geschlechts zum weiblichen bei den Auswanderern = 126:100, bei der Reichsbevölkerung nur 103:100, und es kamen von je 1000 Auswanderern der Jahre 1880 und 1881:
solche von | bei den Auswanderern | bei der ganzen Bevölkerung |
---|---|---|
0-20 Jahren | 427 | 443 |
20-40 Jahren | 472 | 293 |
40 Jahren und mehr | 101 | 264 |
In der neuern Zeit wandern mehr ganze Familien aus als früher. Infolgedessen ist der Prozentanteil des weiblichen Geschlechts und der Kinder gestiegen. Dann kommen die Auswanderer auch nicht ganz mittellos in das fremde Land. Kapp berechnet, daß die Vereinigten Staaten [* 18] allein von Deutschland ¶
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in 50 Jahren 500 Mill. Thlr. bar und 1751 Mill. Thlr. an Kapitalwert gewonnen haben, und daß Europa täglich rund 1 Mill. Doll. durch seine Auswanderer an die Union abgibt. Nach andern Schätzungen hat Deutschland in diesem Jahrhundert durch seine Auswanderer an Vermögen und fahrender Habe 1½, in dem an die Auswanderer aufgewendeten Erziehungskapital 2, zusammen also 3½ Milliarden Mk. eingebüßt. Diese Summen beruhen wohl aus allzu hohen Schätzungen. Denselben stehen die Summen gegenüber, welche durch Einwanderung gewonnen werden.
Das Erziehungskapital ist freilich verloren, oder es hätten die Eltern der Auswanderer ohne den Erziehungsaufwand ein bequemeres Leben führen können. Nachdem nun aber einmal die Kinder erzeugt und erzogen sind, fragt es sich nur, ob ihre Kräfte anderweit hätten wirtschaftlich verwandt werden können. Ist dies nicht der Fall, wären sogar die Auswanderer der Gesellschaft zur Last gefallen, so ist der durch die Auswanderung entstehende Verlust an Erziehungskapital nicht weiter zu beklagen.
Wird zwar die augenblickliche Bevölkerungszahl durch die Auswanderung gemindert, so wird oft, und zwar gerade bei den wanderlustigsten Nationen, die entstandene Lücke rasch wieder ausgefüllt. Einen positiven Gewinn kann die Auswanderung dem Mutterland dadurch bringen, daß sie die Grundlage einer dauernden Handelsverbindung bildet. Dies wird insbesondere dann leicht der Fall sein, wenn die Auswanderer sich Ländern zuwenden, in welchen eine verwandte Nationalität mit gleicher Sprache, [* 20] Sitte und Kultur vorherrscht, oder wenn sie auch nur unter fremden Völkern durch festes, selbstbewußtes Auftreten und wachsende Zahl ihrer Nationalität mehr und mehr Geltung zu verschaffen wissen. Dies haben insbesondere die Briten verstanden und dadurch ihre Weltmachtstellung über alle Meere ausgebreitet, während leider die Deutschen in der Regel nach kürzerm oder längerm Verweilen in den sie umgebenden fremden Nationalitäten gänzlich aufgegangen sind.
Staatliche und private Thätigkeit.
Die Auswanderungspolitik des Staates trägt heute einen wesentlich andern Charakter als noch vor 100 Jahren. Standen der Auswanderung im Mittelalter vielfach Rechte Dritter im Weg (Hörigkeit), so suchte man sie später, insbesondere in der Blütezeit des Merkantilsystems, durch Verbot und Abgaben (Gabella emigrationis) zu beschränken, um dem Land eine größere Volkszahl zu erhalten. Vielfach wurde die heimliche Auswanderung, insbesondere aber das Anwerben und Verleiten zur Auswanderung, mit strengen Strafen, selbst mit »Leibes- und Lebensstrafen«, bedroht (vgl. Bevölkerung).
Heute dagegen ist die in den Kulturländern ganz freigegeben, sofern nicht durch dieselbe die gegen den Staat zu erfüllenden Pflichten (Militärpflicht) verletzt werden. Der Grundsatz der Auswanderungsfreiheit ist im deutschen Bundes- (jetzt Reichs-) Gesetz vom ausdrücklich anerkannt. Der von einem Lande des Reichs in das andre (gewöhnlich Überwanderung genannt) werden überhaupt keine Schwierigkeiten in den Weg gestellt. Auch die Entlassung aus dem Reichsverband darf in Friedenszeiten niemand versagt werden, der seinen Pflichten als Angehöriger des Militär- oder des Beamtenstandes genügt hat.
Aktiven Militärpersonen ist die Entlassung unbedingt zu versagen, andern kann dieselbe nur unter gewissen Voraussetzungen erteilt werden. Heimliche Auswanderung solcher Personen bedrohen die § 140 u. 360, Abs. 3 des Reichsstrafgesetzbuchs mit Strafe. Ebenso ist die geschäftsmäßige Verleitung zum Auswandern durch Vorspiegelung falscher Thatsachen und durch Täuschung strafbar (§ 144). Die heutige Auswanderungspolitik ist mehr darauf gerichtet, im Interesse der Auswanderer selbst geeignete Maßregeln zu ergreifen durch gesetzliche Bestimmungen über die Thätigkeit von Auswanderungsagenten, Anstellung von Beamten zur Beaufsichtigung des Auswanderungswesens an Seeplätzen, Schutz der Ausgewanderten in fremden Ländern etc. Dazu tritt noch in der neuern Zeit das Bestreben, den Auswandererstrom dahin zu leiten, wo er dem Mutterland ersprießliche Dienste [* 21] leisten könne (vgl. Kolonien).
In den Bereich der Staatsthätigkeit gehört auch die Führung einer geordneten Auswanderungsstatistik, wie sie auf Grund der Listen von Auswandererschiffen, dann auf Grund ausgestellter Pässe und Entlassungsurkunden aufgestellt werden kann. Allerdings muß, da Reisende und Auswanderer nicht immer streng zu scheiden sind, auf volle Genauigkeit verzichtet werden, wie denn auch die in Nordamerika geführten Listen mit den europäischen keineswegs immer übereinstimmen.
Preußen [* 22] nahm schon 1847 die Auswanderungsangelegenheit in die Hand, [* 23] dann 1848 die deutsche Nationalversammlung, 1850 die deutsche Union, wodurch ein besonderes Auswanderungs- und Kolonisationsamt eingesetzt werden sollte. Mit der Union scheiterte auch dieser Plan. Jetzt beschäftigt sich die Regierung des Deutschen Reichs insoweit mit der Auswanderung, daß sie einen Reichskommissar bestellt, dem die Überwachung der deutschen Auswandererschiffe zum Zweck der Erfüllung der vorgeschriebenen Regulative unterstellt ist.
Auf den Gewerbebetrieb der Auswanderungsunternehmer und -Agenten finden die Bestimmungen der deutschen Gewerbeordnung keine Anwendung. Die für denselben erforderliche gesetzliche Regelung bleibt der Landesgesetzgebung überlassen, welche dann auch an der meist schon früher eingeführten Konzessionspflicht festgehalten hat. Die private Thätigkeit hat sich der Auswanderungsfrage in vielen Ländern zugewandt. Von den seit 1843 gegründeten Gesellschaften sind zu nennen: der Auswanderungsverein in Düsseldorf [* 24] (1843), dann (1848) Vereine zu Dresden [* 25] u. Leipzig, [* 26] der Nationalverein für deutsche Auswanderung zu Frankfurt [* 27] a. M. mit Zweigvereinen in Darmstadt, [* 28] Reutlingen, [* 29] Karlsruhe, [* 30] Limburg, [* 31] Wiesbaden, [* 32] der Verein zur Zentralstation deutscher Auswanderung und Kolonisation zu Berlin [* 33] (1849), der Verein zur geistlichen Fürsorge für die deutschen Auswanderer in den westlichen Staaten der Union (1852). Bestimmte Gebiete faßten ins Auge: [* 34] der Deutsche [* 35] Adelsverein für Texas (1844), der Preußische Verein für die Mosquitoküste, der Bülowsche für Zentralamerika, [* 36] der Stuttgarter für Chile, [* 37] ein Verein für Westaustralien, der Kolonisationsverein für Südbrasilien (1849) in Hamburg, [* 38] der von allen jenen allein noch besteht. In neuester Zeit haben der Zentralverein für Handelsgeographie, der Westdeutsche Verein, der Münchener Verein sich mit der Auswanderungsfrage wenigstens insoweit beschäftigt, als sie die deutsche in geeignete Gebiete zu lenken strebten. Auch in den Häfen, in welchen sie landen, finden die Auswanderer vielfach Schutz und Beihilfe durch gemeinnützige Vereine. In New York besteht zum Schutz derselben eine eigne offizielle Einwanderungskommission, welcher auch die Vorsitzenden der deutschen und der irländischen Gesellschaft angehören.
Länder mit überwiegender Auswanderung.
Deutschland hat schon seit den frühsten Zeiten Auswandererzüge über seine Grenzen nach Osten und Südosten entsandt. So wurden die östlichsten ¶