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desjenigen Landes, welches den Rechtsflüchtigen in seine Verfügungsgewalt zu bringen sucht, und endlich die Rechtsflüchtigen selbst. Im weitern Sinn genommen, begreift der Ausdruck Auslieferung auch die gesetzlich geordnete, in Gemäßheit strafprozessualischer Grundsätze zu bewirkende Übergabe eines Verbrechers von einem Gericht eines Staates oder Bundesstaats an ein andres Gericht innerhalb desselben Gesetzgebungsterritoriums. Im engern Sinn versteht man dagegen unter Auslieferung eine Maßregel der Völkerrechtsordnung, in Gemäßheit welcher unabhängige Staaten sich wechselseitig für die Zwecke der Strafrechtspflege Unterstützung leihen, damit Verbrecher in demjenigen Staat, in welchem sie eine Missethat begangen haben, und aus welchem sie entflohen sind, zur Rechenschaft gezogen werden können.
Was die geschichtliche Entwickelung der Auslieferung anbelangt, so folgt diese überall dem jeweiligen Zustand der strafrechtlichen Kultur, der Strafprozeßgrundsätze und der völkerrechtlichen Beziehungen. Im Altertum fehlte es durchaus an regelmäßigen Einrichtungen der Auslieferung. Man dachte nicht an die Verfolgung solcher, die sich der Bestrafung durch Flucht in das Ausland entzogen hatten. Das Exil war die hauptsächliche und vielfach sogar einzig mögliche Gestalt der Freiheitsstrafe. Selbstverbannung war zur Zeit der römischen Republik sogar das Recht derjenigen, die sich einer Verurteilung in Kapitalsachen entziehen wollten. Rechtlosigkeit des Flüchtlings in der Fremde erschien im Vergleich zur Todesstrafe als das schlimmere Übel. Dazu kam, daß die einzelnen Staaten den Interessen ausländischer Rechtspflege entweder teilnahmlos oder gar feindlich gegenüberstanden.
Außerhalb der von der Strafrechtspflege verfolgten Zweckrichtungen finden sich freilich im Altertum einige gelegentlich vorkommende Fälle, in denen Schuldige zur Bestrafung an das Ausland abgegeben oder bis in einen ausländischen Zufluchtsstaat verfolgt werden. Die Verfolgung Hannibals durch die Römer, [* 2] die häufig herbeigezogen wird, erscheint jedoch als Akt rein praktischer Verfolgung eines besiegten Feindes, an dessen Vernichtung den Römern auch dann noch viel gelegen war, als er den Oberbefehl über Armeen längst verloren hatte. Es ist selbstverständlich, daß das Asylrecht (s. Asyl) nicht bloß der Bestrafung im Inland, sondern auch der Verfolgung durch ausländische Regierungen eine Schranke setzen mußte.
Ebensowenig wie das klassische Altertum kennt das Mittelalter bestimmte Rechtsregeln für die Handhabung der Auslieferung. Jede der zahlreichen Justizgewalten war eifersüchtig darauf bedacht, ihre Selbständigkeit zu wahren. Kaiser und Könige, Kirchen und Kloster, Grundherren, Vasallen und Städte glaubten es sich und ihrer Würde schuldig zu sein, Rechtsflüchtige so lange zu beschirmen und zu beherbergen, als es das eigne Interesse und die allgemeine Sicherheit irgend zuließen.
Das weit ausgedehnte Asylrecht der mittelalterlichen Kirchen wirkte für andre Lebenskreise vorbildlich. Auch darf nicht übersehen werden, daß die herkömmlichen Vorstellungen von Gastfreundschaft und das durch barbarische Strafmittel in jener Zeit herausgeforderte Mitleid dem Flüchtling überall zu statten kommen mußten. Auslieferung galt daher vielfach als Akt der Schwäche gegenüber dem Andrängen andrer Staaten oder als feiger Verrat an Schutzflehenden, die seltener von dem Spruch einer unparteiisch erwägenden Justiz als von der Rache mächtiger Verfolger bedroht waren. In demselben Maß, wie in den größern Staaten, vornehmlich in Frankreich und in England, die königliche Gewalt ständige Gerichtsorganisationen herzustellen und zu führen vermochte oder das Gebiet der grundherrlichen und kirchlichen Justiz beschränkte, wuchs auch die Erkenntnis, daß die Rechtspflege des Staates, unabhängig von lokalen Hindernissen und räumlichen Schranken, eine allgemein menschliche Aufgabe zu erfüllen hat.
Anderseits begann man im 14. und 15. Jahrh. zu begreifen, daß die öffentliche Unsicherheit (Straßenraub, Wegelagerei, Gaunerwesen) durch Unvollkommenheiten und Hemmungen in der Strafrechtspflege befördert werden mußte, Straflosigkeit also ein schweres Gebrechen darstelle. Vorderhand suchte man sich in höchst zweckwidriger Weise dadurch zu helfen, daß man die strafprozessualische Lage des Ausbleibenden und Flüchtigen durch allerlei Nachteile verschlimmerte, womit dann hinwiederum das öffentliche Mitleid auf seine Seite gedrängt wurde.
Dennoch kennt die mittelalterliche Rechtsgeschichte einige Beispiele von Auslieferungsverträgen. Als solche sind zu erwähnen:
1) das Abkommen zwischen Heinrich II., König von England, und Wilhelm, König von Schottland, betreffend die wechselseitige Verpflichtung zur der wegen Felonie Verfolgten (1174);
2) der Vertrag zwischen Karl V. von Frankreich und dem Grafen von Savoyen Immerhin waren solche Verträge selten. Häufiger kam es vor, daß Fürsten in eine Beschränkung des Asylrechts willigten oder aber sich ausdrücklich verpflichteten, gewisse Gattungen von Verbrechern auszuweisen oder überhaupt in ihren Staaten nicht aufzunehmen. Dieser Art war beispielsweise das zwischen Ludwig VI. von Frankreich und dem König von England getroffene Abkommen, wonach man sich Unterstützung gegen rebellische Unterthanen angelobte.
Während man in der Verbannung gemeiner Verbrecher selten etwas Anstößiges fand, erkannte man die Gefährlichkeit des Exils gerade bei politischen Verbrechern vergleichungsweise frühzeitig. So war es denn eben das Interesse absoluter Herrscher, ihre Gegner mit allen denkbaren Mitteln außerhalb der Landesgrenzen zu verfolgen, worin die spätere Auslieferung ihren Anknüpfungspunkt fand Ludwig XIV. ließ gelegentlich Rechtsflüchtige jenseit der französischen Grenze ergreifen, ein willkürlicher Gewaltmißbrauch, dessen sich auch Napoleon schuldig machte, als er sich des Herzogs von Enghien versicherte.
Einen Wendepunkt in der Geschichte des Auslieferungswesens bezeichnet das 18. Jahrh. Die Zweckwidrigkeit einer Verbannung gemeiner Verbrecher ward allgemein begriffen. Friedrich d. Gr. schaffte in seinen Ländern die Landesverweisung ab. Das Interesse, den flüchtigen Verbrecher zu verfolgen, traf zusammen mit dem präventiv-polizeilichen Zweck, fremdes Gesindel von der Zuwanderung abzuhalten. Ebenso einleuchtend war, daß dem Abschreckungszweck; dem die Strafrechtspflege im vorigen Jahrhundert mit Vorliebe huldigte, in vollkommenem Maß erst dann genügt sei, wenn dem Verbrecher die Hoffnung abgeschnitten würde, sich nach begangener Missethat in die Fremde flüchten zu können.
Anderseits begann die öffentliche Meinung unter dem Eindruck, den der Widerruf des Edikts von Nantes [* 3] und die Dragonaden gemacht hatten, der politisch und religiös Verfolgten sich anzunehmen. Selbst die Päpste vermochten sich dieser Strömung der Gedanken nicht zu entziehen. Die Kirche ordnete eine Beschränkung ihres alten Asylrechts an. Überall suchte man, zumal nach dem Auftreten Beccarias, die allgemeinen menschlichen Interessen in der Strafrechtspflege und ¶
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Strafgesetzgebung geltend zu machen und den Eigennutz der einzelnen Staaten in der Verfolgung ihrer besondern Interessen zurückzudrängen. Frankreich, Dänemark, [* 5] Spanien, [* 6] die deutschen Staaten, Schweden, [* 7] Rußland schlossen mehrfach Auslieferungsverträge miteinander ab. Als einer der vollständigsten in dieser Kategorie darf derjenige bezeichnet werden, den Frankreich 1759 mit Württemberg [* 8] abschloß und 1765 erneuerte. Unter den acht Verbrechensgattungen, auf welche derselbe Bezug nahm, befanden sich sogar Deserteure und Vagabunden, ein Anzeichen dafür, daß polizeiliche Zwecke sich mit den strafrechtlichen Gesichtspunkten vermischten. Selbst die nordamerikanische Union schloß ihren ersten Auslieferungsvertrag mit England wonach Mörder und Fälscher wechselseitig ausgeliefert werden sollten.
Für die im 19. Jahrh. fortschreitende Entwickelung der waren vorzugsweise zwei Verhältnisse von Wichtigkeit: einmal die Verbreitung der konstitutionellen Verfassungsgrundsätze in West- und Mitteleuropa, anderseits die ungeheure Verkehrsentwickelung infolge des Eisenbahnbaus und der Einrichtung transatlantischer Dampferlinien. Jede der zahlreichen politischen Bewegungen seit 1815 nötigte die hervorragenden Führer aufständischer Parteien oder der gestürzten Reaktion, in das Ausland unter den Schutz freierer Staatsordnungen zu flüchten.
Aber auch das gemeine Verbrechen fand in der Leichtigkeit, die Staatsgrenze zu überschreiten, einen Anreiz zur Bethätigung. England, Belgien [* 9] und die Schweiz [* 10] verteidigten das Asylrecht für politische Verbrecher, während sie gleichzeitig die thatkräftige Verfolgung gemeiner Verbrecher zuzugestehen bereit waren. Mit 1815 beginnend, steht das europäische Auslieferungsrecht unter diesem überall durchschimmernden Gegensatz zwischen dem Mißtrauen derer, welche im Hinblick auf das politische Verbrechen der Verfolgungssucht despotischer Regierungen zu wehren suchen, und dem sicherheitspolizeilichen Bestreben, sich schleunigst mit Hilfe ausländischer Staatsregierungen des Rechtsflüchtigen zum Zweck seiner Aburteilung zu versichern.
Die Thatsache der Flucht erschien somit überall, je nach dem Standpunkt des Beurteilers, in dem Zwielicht einerseits berechtigter Selbsterhaltung gegen despotisch und willkürlich gehandhabte Übermacht siegreicher Parteigegner, anderseits als Eingeständnis der Schuld durch solche, die sich der Untersuchung vor dem Richter entzogen. Von hervorragender Wichtigkeit für die spätere Ausbildung der Auslieferungspraxis nach 1848 ward die belgische Gesetzgebung, die jenen verschiedenen Gesichtspunkten gerecht zu werden suchte und deswegen in neuerer Zeit vielfach als mustergültig betrachtet wurde, während, im Unterschied dazu, die osteuropäischen Staaten bis vor kurzem das polizeiliche Verfolgungsinteresse über Gebühr betonten und England sowie die nordamerikanische Union den Schutz auch gemeiner Verbrecher gegenüber der ausländischen Justiz in bedenklicher Weise ausdehnten.
Gegenwärtiger Zustand des Auslieferungsrechts.
Schwerlich wird heutzutage bestritten, daß die von einem Staat (Zufluchtsstaat) an einen andern Staat (Verfolgungsstaat) einen wesentlichen Bestandteil geordneter Strafrechtspflege darstellt. Immerhin aber bleibt bei der Bemessung der dabei innezuhaltenden Grenzen [* 11] auch heutzutage noch mancher Zweifel bestehen. Streitig ist insbesondere, ob eine Auslieferungspflicht, vom Standpunkt allgemeiner völkerrechtlicher Grundsätze ausgehend, auch ohne vertragsmäßige Vereinbarung angenommen werden könne.
Sicherlich ist die Auslieferung keine Sache der bloßen Willkür oder der Gefälligkeit. Jeder Staat ist heutzutage nicht nur an der Aufrechterhaltung des Friedens zwischen dritten Staaten, sondern auch an der Sicherung ausländischer Rechtsordnung gegen schwere Schädigungen interessiert. Kein Staat kann wünschen, daß sich fremde Verbrecher in seinem Gebiet niederlassen oder aufhalten, um die Frucht ihrer Missethaten ruhig zu genießen. Thatsächlich ist indessen der Zustand der europäischen Strafgesetzgebungen noch ein so ungleicher, daß nicht nur die Bestimmungen darüber, was gestraft werden soll, sondern auch die Festsetzungen der Strafarten und der Strafmaße weit auseinander gehen. Da gerade das Strafrecht in besonders starkem Maß Ausdruck ethischer Prinzipien ist, so kann von den höher entwickelten Kulturstaaten füglich nicht begehrt werden, daß sie die Flüchtlinge in solchen Fällen ausliefern, in denen sie weder das Vorhandensein sittlicher und rechtlicher Verschuldung noch die Zulässigkeit gewisser Strafmittel anzuerkennen vermögen. Gäbe es in Europa [* 12] irgend einen Staat, der sich qualvoller Todes- oder Leibesstrafen bediente, so wäre ihm gegenüber die Auslieferung sicherlich einzuschränken. Hieraus ergibt sich, daß von einer allgemeinen Auslieferungspflicht so lange noch nicht die Rede sein kann, als nicht eine Ausgleichung der hauptsächlichsten Strafrechtsverschiedenheiten in den einzelnen Ländern eingetreten ist.
Somit sind die Staaten zur Auslieferung aneinander nur so weit gehalten, als sie sich vertragsmäßig dazu verpflichtet haben. Die Übernahme solcher Verpflichtungen ist jedoch keine Sache der Willkür. In der konstitutionellen Monarchie erfordert der Abschluß von Ablieferungsverträgen die Mitwirkung der Volksvertretung. Diese Mitwirkung kann in doppelter Gestalt hervortreten: entweder in der Vereinbarung und Publikation eines Auslieferungsgesetzes, worin die Bedingungen im voraus genau festgestellt werden, unter denen die Staatsregierung Auslieferungsverträge mit dem Ausland abschließen darf (wie in Belgien, Holland, England, deren Beispiel auch die französische und italienische Regierung zur Vorlage derartiger Gesetzentwürfe 1882 und 1883 bewogen hat), oder in dem Erfordernis nachträglicher Zustimmung zu jedem einzelnen Auslieferungsvertrag, wie nach der Vorschrift der deutschen Reichsverfassung, wobei zu bemerken ist, daß für beide Systeme gewichtige Gründe angeführt werden können. Sieht man in der Auslieferung vorzugsweise einen Rechtsakt, nicht eine politische oder administrative Maßregel, so dürfte freilich dem belgischen System der Vorzug einzuräumen sein.
Die Hauptpunkte, auf deren Ordnung in den Auslieferungsverträgen zu achten ist, sind folgende:
1) Die Bestimmung derjenigen Personenklassen, die der Auslieferung unterliegen sollen. Zunächst muß man davon ausgehen, daß (dem Ausland gegenüber) Staaten keine Unterstützung beanspruchen dürfen, die darauf bedacht sind, ein außerhalb ihrer Grenzen begangenes Verbrechen zu ahnden. Sodann geht die überwiegende Praxis dahin, die Auslieferung eigner Unterthanen an das Ausland zu verweigern. Das deutsche Strafgesetzbuch (§ 9) verbietet sie geradezu. Selbstverständlich ist aber unter der Bezeichnung Ausland in dieser Hinsicht das Verhältnis der einzelnen Mitgliederstaaten in einem Bund nicht zu verstehen. Das Deutsche Reich, [* 13] die amerikanische Union, die Schweiz haben besondere Vorschriften für das interne Auslieferungswesen. Abweichend von der allgemeinen Praxis, liefern ¶