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wirkliche Schöne in seiner Zeitfolge darstellt, noch mit atheistischer oder theistischer Metaphysik zu verwechseln, welche statt der wesentlichen Formen der Schönheit deren Werden ins Auge [* 2] faßt. Da sich nun an jedem Bild Form und Stoff unterscheiden und jene abgesondert von diesem sich betrachten, wenngleich nicht thatsächlich von demselben trennen läßt, so kann der Grund des Gefallens oder Mißfallens des Bildes bald in dessen Form (formale), bald in dessen Materie (materiale Ästhetik) für sich gesucht werden.
Geläufige Erfahrungen, wie die, daß dieselben Tonempfindungen in gewisser Aufeinanderfolge ein melodisches, in einer andern ein häßliches Tonbild ergeben, entscheiden für das erstere. Der Grund des ästhetischen Gefallens oder Mißfallens eines Vorstellungsbildes darf nicht in dessen unverbundenen Teilen (der Materie), sondern muß in deren Verbindung zu einem Ganzen (in der Form) gesucht werden. Daraus folgt von selbst, daß bei einem einfachen Vorstellungsbild, wie z. B. bei dem des mathematischen Punktes im Raum, bei einfachen Gesichts- und Gehörsempfindungen, von Gefallen oder Mißfallen nicht die Rede sein kann.
In der That hat das Vorbild exakter Ästhetik, die musikalische Harmonielehre, nicht sowohl die einzelnen Töne als vielmehr ihre Verbindung zu wohlgefälligen oder mißfälligen Tonganzen niederer und höherer Ordnung, harmonische und disharmonische Tonverhältnisse (Akkorde etc.), zum Gegenstand. Aufgabe ist nun, von dem Fundamentalsatz ausgehend, daß alles, was überhaupt gefällt oder mißfällt, nur durch seine Form gefalle oder mißfalle, diejenigen Formen, welche, für sich unbedingt bei- oder mißfällig, jedem wie immer beschaffenen Stoff, an dem sie sich finden, die gleiche Eigenschaft mitteilen, in erschöpfender Vollständigkeit aufzuzählen.
Ihr Gelingen hängt davon ab, ob diese Formen, welche zugleich jeder auf Realisierung des unbedingt Beifälligen gerichteten (Kunst-) Thätigkeit als Normen dienen, empirisch induziert werden müssen (experimentale Ästhetik, Fechner) oder apriorisch deduziert werden können. Ersteres würde niemals, letzteres muß zu einer geschlossenen Reihe führen. Schlägt man letztern Weg ein, so zeigt sich, daß die Teile des Vorstellungsbildes, da sie als solche selbst wieder Vorstellungen sind, nur entweder ihrer Stärke [* 3] (Quantität) oder ihrem Inhalt (Qualität) nach ein Verhältnis zu einander haben, daß sie nur durcheinander meßbar oder miteinander vergleichbar sein können.
Verfolgt man jenen Gesichtspunkt, so ergibt sich die ästhetische Quantitätsform; verfolgt man diesen, so entspringen die ästhetischen Qualitätsformen. Vermöge der erstern gefällt das Starke (Große) neben dem Schwachen (Kleinen) und mißfällt dieses neben jenem; vermöge der letztern gefällt das dem Inhalt nach überwiegend Identische (Harmonische), [* 4] mißfällt das dem Inhalt nach überwiegend Entgegengesetzte (Disharmonische). Ersteres überwiegen kann so weit gehen, daß es nicht weiter gehen darf, ohne zur völligen Einerleiheit des Harmonierenden zu werden, womit die Harmonie aufhören würde.
Dieses Maximum der Identität tritt bei dem Verhältnis zwischen dem sonst wie immer beschaffenen Vor- und seinem getreuen Nachbild ein; die harmonische Qualitätsform geht für diesen Fall in die wohlgefällige Form des Charakteristischen über. Bleibt die Übereinstimmung hinter dem Maximum zurück, so daß wohl alle Teile des Bildes untereinander nahe verwandt sind, aber jeder jedem in gewissen Rücksichten entgegengesetzt ist, so führt die harmonische, wohlgefällige Qualitätsform den Namen des Einklanges.
Die disharmonische Qualitätsform ist als solche mißfällig und weist, wo sie sich einstellt, auf eine notwendige Lösung hin. Erfolgt diese durch künstliche Unterschiebung eines andern an den Platz des mißfälligen Bildes, so ist zwar der Grund des Mißfallens beseitigt, die Eintracht (nicht Einklang!) hergestellt, das so verbesserte oder gänzlich erneuerte Bild korrekt; aber zugleich hat auch ein erkünsteltes Bild den Ort des wahren, Schein die Stelle des Seins eingenommen, und ein neuentstandenes Mißfallen, das an die Geltung des Scheins sich heftet, verschwindet nicht eher, als bis das wahre Bild restituiert, die Störung durch das ein- und untergeschobene ausgeglichen ist. Im ersten Fall geht die disharmonische Qualitätsform in die Form der Korrektheit, im zweiten in jene der Ausgleichung über, welche zugleich die der Bewegung und (wenigstens scheinbaren) verständigen Beseelung ist.
Letztere wird für den Fall, daß das wiederhergestellte Bild selbst ein an sich wohlgefälliges sei und daher nach zu Ende gebrachtem Ausgleichungsprozeß kein neues Mißfallen sich einstelle, zur Form des abschließenden Ausgleichs, womit die Reihe der (möglichen) ästhetischen Grundformen endgültig erschöpft ist. Die Zusammenfassung derselben in ein der Form des Charakteristischen entsprechendes Nachbild eines die Formen der Vollkommenheit (Größe, Fülle, Ordnung), des Einklanges, der Korrektheit und des abschließenden Ausgleichs an sich tragenden Vorbildes erzeugt das Schöne.
Die Durchführung jeder einzelnen obiger Elementarformen innerhalb eines Gesamt- oder Totalbildes führt zu den abgeleiteten Formen des ästhetischen Reinheits-, Freiheits-, Einheits-, Wahrheits- und Vollkommenheitssystems, welche zusammengenommen ihrem gemeinsamen Träger [* 5] den Stempel des Klassischen aufprägen. Jenem steht das mannigfaltige Häßliche, die Gegenteile der ästhetischen Grundformen, diesem das Romantische gegenüber, welches aus unvollendetem Vorstellen entspringt.
Die Aufgabe der allgemeinen Ästhetik als »Morphologie des Schönen« erreicht mit dieser Aufzählung der Formen, an deren Vorhandensein an was immer für einem Stoff Gefallen und Mißfallen sich knüpfen, ihr Ende; die Form des Erhabenen, bei welchem das Vorstellen, der Unermeßlichkeit des Vorzustellenden wegen, sich in ein bloßes Streben vorzustellen verwandelt, greift schon über die Grenzen [* 6] des rein Ästhetischen hinaus, innerhalb deren nur Meß- und Vergleichbares zu dulden ist; die Formen der Ironie, des Komischen, des Tragischen und des Humors finden erst bei der Erscheinung des Geistes für andre, die ersten beiden innerhalb des geselligen Vorstellens, letztere zwei innerhalb des geselligen Fühlens, ihre richtige Stelle.
Zweck der sich an die allgemeine ästhetische Formenlehre anreihenden besondern ist es nun, durch Anwendung der allgemeinen Formen auf begrenzte Stoffgebiete (Natur, Geist, Vorstellen, Fühlen, Wollen) Bilder einer schönen Natur (Kosmos), eines schönen Geistes zu entwerfen, welche einer auf Verwirklichung des absolut Wohlgefälligen gerichteten Thätigkeit (der wirklichen Natur, dem wirklichen Geist) als Muster dienen können. Der Geist wird dabei zuerst als vereinzelter, nur sich selbst, hierauf als geselliger, auch andern erscheinender und zu dem letztern Zweck der realen Sinnenwelt als Verkörperungsmittel (Sprache) [* 7] sich bedienender, in beiden Hinsichten als vorstellender, fühlender und wollender ins Auge gefaßt. Als ästhetisches Vorstellen ist er Phantasie (Schöngeist), als ebensolches ¶
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Fühlen Geschmack (schöne Seele), als gleiches Wollen Charakter (Tugend);
die erste führt, wenn sie mit andern und für andre vorstellt, zur realen Kunst (Sprache in Bild, Ton und Wort);
der zweite, indem er mit andern und für andre fühlt, zur Humanität (Mitgefühl in Sitte und Anstand);
der dritte, indem er mit andern und für andre will, zur Sittlichkeit (Wohlwollen, Recht und Vergeltung).
Die Ästhetik begreift daher die Ethik (persönliche und gesellige Tugend, Charakter, Sittlichkeit) unter sich; die allgemeinen ästhetischen Formen finden sich in den praktischen Ideen Herbarts: der Vollkommenheit, der innern Freiheit, des Wohlwollens, des Rechts, der Billigkeit, des Rechts-, Lohn-, Verwaltungs-, Kultursystems und der beseelten Gesellschaft, angewandt auf den Willen wieder. Die weitere Gliederung der Phantasie nach den drei Hauptklassen des entweder bloß räumlich und zeitlich zusammenfassenden, oder sinnlich empfindenden, oder Gedanken bildenden Vorstellens führt zu der Dreiteilung der bildnerischen, musikalischen und poetischen Phantasie und gibt zu ebenso vielen abgesonderten Lehren [* 9] vom Bildnerisch-, Musikalisch- und Poetisch-Schönen Anlaß, welche durchaus miteinander nicht vermengt werden sollten.
Mit ihrer Aufstellung schließt die theoretische Wissenschaft vom Schönen; die praktische Ästhetik (Semper: »Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten«, welche zur Realisierung wohlgefälliger Formen in beliebigem sinnlichen Stoff (Stein, Thon, Holz, [* 10] Bein und Metall; Licht [* 11] und Farbe; Luft, Ton und Wort) Anleitung gibt, bleibt ebenso wie die praktische Ethik (angewandte Tugendlehre, Pädagogik und Politik) besondern an die bezüglichen Teile der theoretischen Ästhetik sich anschließenden Kunstlehren vorbehalten.
[Litteratur.]
Außer den bahnbrechenden Werken von Kant (»Kritik der Urteilskraft«, 1790),
Schelling (»Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur«, 1807),
Solger (»Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst«, Berl. 1815) und Hegel (»Vorlesungen über die Ästhetik«, hrsg. von Hotho, das. 1835 bis 1838, 3 Bde.) haben fast alle namhaften deutschen Denker auch teils Vorlesungen über Ästhetik gehalten, teils Andeutungen über dieselbe gegeben. So Herbart (in der »Allgemeinen praktischen Philosophie«, Götting. 1808; »Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie«, 4. Aufl., Königsb. 1837),
Schopenhauer (»Die Welt als Wille und Vorstellung«, 3. Buch, 5. Aufl., Leipz. 1879);
Fries (»Handbuch der Ästhetik«, Heidelb. 1832),
Brause (»Abriß der Ästhetik«, hrsg. v. Leutbecher, Götting. 1837),
Schleiermacher (»Vorlesungen über Ästhetik«, hrsg. von Lommatzsch, Berl. 1842).
Treffende Winke, insbesondere über das Komische und die Theorie des Humors, enthält Jean Pauls »Vorschule der Ästhetik« (1804). Systematische Darstellungen der gesamten von den nun veralteten Lehrbüchern Bouterweks, Wendts, Webers, Thiersch' u. a. abgesehen, haben geliefert der Hegelianer F. Th. Vischer ( Ästhetik«, Reutling. 1846-57, 3 Abtlgn.; in schwerfälligen Paragraphen und geistreichen Anmerkungen) im pantheistischen, die Halbhegelianer C. H. Weiße (»System der Ästhetik«, Leipz. 1830, 2 Bde.; dasselbe aus dem Kollegienheft letzter Hand [* 12] hrsg. von R. Seydel, das. 1872),
M. Carriere ( Ästhetik«, 3. Aufl., das. 1885, 2 Bde.) im theistischen Sinn, alle drei vom Standpunkt der Gehaltsästhetik; ferner der Herbartianer R. Zimmermann (»Allgemeine Ästhetik als Formwissenschaft«, Wien [* 13] 1865) und die Nichtherbartianer C. Köstlin ( Ästhetik«, Tübing. 1863-69, und »Über den Schönheitsbegriff«, das. 1878) und K. Lemcke (»Populäre Ästhetik«, 5. Aufl., Leipz. 1879) vom Standpunkt der Formästhetik. Eine zwischen beiden schwankende Stellung nimmt J. H. ^[Julius Hermann] v. Kirchmanns »Ästhetik auf realistischer Grundlage« (Berl. 1868, 2 Bde.) ein, während Deutinger in seiner »Kunstlehre« als 4. und 5. Teil seines »Systems der positiven Philosophie« (Regensb. 1845-1847) und Dursch in seiner »Ästhetik« (Stuttg. 1840) eine Darstellung derselben auf christlicher Grundlage versucht haben. C. Hermann ist in seiner in ihrer Geschichte und als wissenschaftliches System« (Leipz. 1875) auf den Standpunkt Baumgartens zurückgegangen, während Siebeck (»Das Wesen der ästhetischen Anschauung«, Berl. 1875) vom Herbartschen Standpunkt aus eine Annäherung an die Gehaltsästhetik, dagegen Vischer in seiner Selbstkritik (»Kritische Gänge«, 5. und 6. Heft, Stuttg. 1866) eine solche an die Formästhetik versucht und Fechner in seinem »Beitrag zur experimentellen Ästhetik« (Leipz. 1871) und seiner »Vorschule der Ästhetik« (das. 1876, 2 Bde.) den experimentellen Weg betreten, Joh. Volkelt (»Der Symbolbegriff in der neuesten Ästhetik«, Jena [* 14] 1876) aber wieder wie einst Solger das Schöne symbolisch aufzufassen gesucht hat. Die erste vollständige Geschichte der Ästhetik hat Robert Zimmermann (Wien 1858) vom Herbartschen, eine zweite, sich »kritisch« nennende M. Schasler (Berl. 1872) vom Hegelschen Standpunkt aus geschrieben; H. Lotzes fein und geistreich, aber subjektiv gehaltene »Geschichte der in Deutschland« [* 15] (Münch. 1868) lehnt sich an Weiße an. Über die »Geschichte der Theorie der Kunst bei den Alten« hat Ed. Müller ein treffliches Werk (Berl. 1834-1837, 2 Bde.) verfaßt. Beiträge zur Geschichte der Ästhetik enthalten Neudeckers »Studien zur Geschichte der deutschen Ästhetik seit Kant« (Würzb. 1878).