im weitern Sinn jeder Keim einer künftigen Entwickelung, welcher durch äußere Anregung zur Entfaltung gebracht,
im engern Sinn jede Thätigkeit, welche durch Übung und Gewöhnung zur Fertigkeit erhoben wird. In jener Bedeutung wird auch
der Keim einer (leiblichen oder geistigen) anormalen Entwickelung, einer Krankheit, eines Lasters Anlage genannt; in dieser bezeichnet
Anlage eine (allgemeine oder spezifische) Befähigung, deren höherer Grad Talent, deren höchster Genie heißt.
Letztere Stufen unterscheiden sich untereinander in der Weise, daß ohne Anlage weder übung noch Nachhilfe Fertigkeit erzeugt,
das Talent dagegen nur mäßiger, das Genie (scheinbar wenigstens) gar keiner Übung und Nachhilfe bedarf.
Die für den Psychologen, insbesondere aber für den Pädagogen nicht gleichgültige Frage, ob Anlagen angeboren, bez. angeerbt
oder erworben, bez. vererblich seien, wird je nach der jeweiligen Ansicht von dem Wesen der Seele verschieden beantwortet.
Wer überhaupt kein vom Körperlichen unterschiedenes Seelenprinzip anerkennt (Materialismus), für den
hat die Frage nach in der Seele von Geburt des Menschen an vorhandenen Keimen (Anlagen, Kräften, Vermögen, Ideen) überhaupt keinen
Sinn; sowohl psychische Anlagen als psychische Vorgänge sind in seinen Augen ausschließlich organische (leibliche Dispositionen,
Gehirnprozesse). Wer dagegen die Existenz einer Seele einräumt (Spiritualismus), denkt dieselbe entweder
von Geburt an, sei es mit aus einem allerdings unbekannten Vorleben mitgebrachten Fertigkeiten (Mystizismus), sei es mit
bloßen Keimen zu solchen (Rationalismus) ausgerüstet oder nach dem von Aristoteles (und Locke) gebrauchten Bild als eine leere
Wachstafel (oder ein weißes Blatt Papier), die, erst in diesem Leben durch die mittels der Sinne ihr zugeführten
Eindrücke gleichsam beschrieben, die Elemente und Grundlagen ihrer künftigen Entwickelung empfängt (Empirismus). Im ersten
Fall ergibt sich als unvermeidliche Folgerung, daß die Erziehung in diesem Leben aus dem Zögling nichts mehr und nichts andres
zu machen vermöge, als was er schon in dem (vorausgesetzten) Vorleben gewesen sei, oder was er aus diesem
als unauslöschliche in das gegenwärtige herübergebracht habe, daß somit die eigentliche Erziehung nicht in das uns aus
Erfahrung allein bekannte Erden-, sondern in ein hypothetisches (möglicherweise nur erträumtes) Dasein der Seele vor oder
außer diesem Falle, eine Folgerung, mit welcher die Pädagogik nichts anzufangen weiß. Im zweiten Fall
aber scheint es, es liege in der Macht des Erziehers, aus dem »wie Wachs« bildsamen Zögling alles Beliebige zu modeln, was
bekanntlich von der Erfahrung ebensowenig bestätigt wird.
Das Korrektiv letzterer Ansicht, welche der Wahrheit jedenfalls nähersteht, liegt in der natürlichen Einschränkung,
welche die Willkür des Erziehers durch den engen gegenseitigen Verband erfährt, in welchem Seele und Leib, Psychisches und Organisches
untereinander stehen. Sämtliche geistige Vorgänge, Vorstellungen, Gefühle und Affekte, Begierden, Willensakte und Leidenschaften
sind von physischen im Körper, insbesondere im Nerven- und Muskelsystem, begleitet, durch solche verursacht (Empfindungen)
oder selbst Ursache von solchen (Bewegungen), werden entweder durch das Physische bestimmt, oder wirken
umstimmend auf dieses zurück. Folge davon ist, daß nicht nur die bleibende Beschaffenheit des ganzen oder die gewisser Teile
des leiblichen Organismus einen
mehr
beharrlichen Einfluß auf die Vorgänge in der Seele ausübt und dadurch vom Moment der Geburt an einen unaustilgbaren Grund
zu ihrer künftigen Gestaltung legt, sondern daß auch umgekehrt die innerlichen Vorgänge, durch welche entsprechende äußere
(z. B. gewisse Muskelstellungen) hervorgerufen werden, durch häufige Wiederkehr im Organismus eine dauernde Disposition zu
denselben (d. h. eine erhöhte Leichtigkeit gewisser Muskel und Gliederbewegungen) erzeugen.
Jene Beschaffenheit kann angeborne, diese Disposition erworbene Anlage heißen; beiderlei Arten sind, da sie ihren Sitz lediglich
im Organismus haben, fähig, die eine durch Erbschaft von den elterlichen Organismen empfangen, die andre durch Vererbung auf
die gezeugten verpflanzt zu werden. Zu erstern ist zu rechnen der bleibende Einfluß, den die organische
Geschlechtlichkeit auf die geschlechtliche (männliche oder weibliche) Sinnesart, die Gesamtbeschaffenheit des leiblichen
Lebens (physisches) auf die Grundstimmung des geistigen und gemütlichen (psychisches Naturell), das individuelle Verhältnis
zwischen Intensität und Erregbarkeit des Nervensystems (physisches) auf das beharrliche Verhältnis zwischen Menge und
Stärke des Vorstellens, Fühlens und Strebens (psychisches Temperament) ausübt, sowie die Hemmung oder Förderung, welche durch
die Verkümmerung oder Verfeinerung aller oder bestimmter einzelner Sinneswerkzeuge dem ganzen oder irgend einem besondern
Gebiet der Sinnlichkeit (der gesamten Anschauungswelt, der Welt der Farben und Formen, der Welt der Töne, Geschmäcke etc.) zu
teil wird (poetische, malerische, musikalische, gastronomische u. dgl.).
Zu den zweitgenannten dagegen gehört die in Künstlergenerationen nicht selten beobachtete überraschende Leichtigkeit,
mit welcher technische Schwierigkeiten (Pinsel- und Federstrich, Fingersatz etc.) durch scheinbar »angeborne«
Fertigkeit überwunden werden, und welche am füglichsten als Vererbung von den Vorgängern erworbener günstiger organischer
Disposition der betreffenden Nerven- und Muskelapparate (in ähnlicher Weise wie die sogen. Kunsttriebe der Tiere)
zu erklären sein dürfte.
In der Medizin bedeutet Anlage zu einer Krankheit eine Mangelhaftigkeit gewisser Organe, z. B. des Herzens oder der Lunge, welche
an sich zwar keine Krankheit ist, auch nicht mit Notwendigkeit zu einer solchen werden muß, sondern nur
einen Schwächezustand darstellt, welcher bei verhältnismäßig geringfügigen äußern Anlässen zu einer Erkrankung zu
führen droht. Solche Anlage ist entweder angeboren oder erworben. Im erstern Fall nennt man die Krankheitsanlagen oder die Gesamtheit
der mangelhaft gebildeten Organe auch wohl Konstitutionsanomalien.
Früher verband man mit diesem Namen der schlechten, der nervösen, der phlegmatischen, der apoplektischen
Konstitution sehr unklare Vorstellungen, und erst, seit man aufgehört hat, die Krankheiten als Wesen zu betrachten, die im Blut
und in den Säften ihren Sitz haben, hat auch die »Konstitution« ihre einheitliche Bedeutung verloren und ist eine Vielheit
geworden, die auf jedes Organ speziell angewendet werden muß. Es gibt z. B. sehr viele Menschen, welche
mit einem schwächern Herzen und einem engern Arteriensystem geboren werden, als es die Norm ist; diese Mangelhaftigkeit ist
eine Krankheitsanlage, sie braucht nie zu einer ernstlichen Störung des Wohlbefindens zu führen, sie kann aber zu Bleichsucht
werden, die schlechte Ernährung der Gewebe kann dann leicht zu chronischen Reizungen der Lymphdrüsen disponieren,
diese wiederum einer
Tuberkulose zu Grunde liegen, so daß man am Ende nicht von einer angebornen Tuberkulose sprechen kann,
sondern nur von einer Tuberkulose, welche auf dem Boden einer Mangelhaftigkeit in der ersten Anlage des Gefäßapparats sich entwickelt
hat.
Bleibt beim Embryo, nachdem die Hoden durch den Leistenkanal hindurchgetreten sind, dieser Kanal offen, so ist dieser Mangel
an sich keine Krankheit, aber eine da ein unbedeutender Hustenstoß einen lebensgefährlichen Leistenbruch zu stande bringen
kann. Die mangelhaften Anlagen des Gehirns sind in ihren anatomischen Ursachen so gut wie unbekannt, nur
in einzelnen Fällen läßt sich nachweisen, daß das ererbte Leiden nicht eine Geisteskrankheit war, sondern ein mangelhaftes
Wachstum der Schädelknochen, welches erst in spätern Jahren eine Raumbeschränkung für das Gehirn, somit eine wirkliche
Krankheit bedingte.
Auch für andre Organe, wie Leber, Nieren und besonders die Gebärmutter, gibt es angeborne Anlagen, welche
entweder ganz unbemerkt bleiben, oder sich erst spät zu einer Krankheit entwickeln können. Ebenso mannigfaltig sind die
erworbenen Anlagen. Wer sich einen Gelenkrheumatismus zuzieht, erwirbt mit ihm die Anlage zu erneuten Anfällen dieser Krankheit
und zu Herzleiden. Wer an chronischer Nierenentzündung leidet, hat eine erhöhte Anlage zu Brustfell- und Herzbeutelentzündungen;
ein alter Entzündungsherd in der Lungenspitze bleibt immer eine ominöse Anlage zu neuen Lungenentzündungen, alte Narben an den
Unterschenkeln sind Anlagen zu neuen Geschwüren, und das Alter selbst bringt hundertfache Anlagen zu Krankheiten, welchen bei
gleichen geringfügigen Ursachen eine jugendlich kräftige Konstitution Trotz bieten würde.
Vgl. Virchow,
Cellularpathologie (4. Aufl., Berl. 1872), und dessen »Handbuch
der Pathologie und Therapie«; Beneke, Die Altersdisposition (Marb. 1879);
Derselbe, Beitrag zur Lehre vom Blutdruck, von der
Pubertätsentwickelung und Seneszenz (Kass. 1879);
Locher, Über Familienanlage und Erblichkeit (Zur. 1874);
Ribot, Die Erblichkeit
(deutsch, Leipz. 1876);
die Schriften Darwins.
In der bildenden Kunst bezeichnet Anlage die ersten roh geordneten Züge eines Werks, woraus man die künftige
Gestalt desselben schon erkennen kann. In ähnlicher Bedeutung spricht man von der Anlage eines dramatischen Stücks oder eines
Charakters in demselben.