Titel
Algerien
[* 2] (hierzu Karte »Algerien, Marokko und Tunis«),
vormals Barbaresken- und als solcher türk. Vasallenstaat, seit 1830 französische Kolonie an der Nordküste von Afrika [* 3] zwischen Marokko und Tunis, dem Mittelmeer und der Sahara. Während die östliche und westliche Grenze gegen Tunis und Marokko festgelegt ist, erscheint die südliche sehr dehnbar und wird von den Franzosen je nach Bedürfnis weiter in die Sahara vorgeschoben oder auf die Oase Wargla, ihren südlichsten Stützpunkt, zurückverlegt. Im allgemeinen kann der 30. Breitengrad als Südgrenze bezeichnet werden, von Ghadames an der Grenze Tripolitaniens bis nördlich von Gurara, einer Oase Tuats. Innerhalb dieser äußersten Ausdehnung [* 4] hat Algerien ca. 667,000 qkm (12,114 QM.) Flächeninhalt.
[Bodengestaltung.]
Algerien zerfällt in drei Departements: Algier, Oran und Konstantine, wovon das erstere den mittlern Teil einnimmt, im S. aber nur bis zur Oase Wargla reicht, während Oran im W., Konstantine im O. sich bis zur Südgrenze ausdehnen. Die etwa 1000 km lange Küste zeigt eine wenig gegliederte, steile und felsige Linie mit einzelnen Kaps und verhältnismäßig wenig guten Häfen. Meist gebirgig, doch auch von einzelnen Ebenen durchbrochen, erhebt sich hinter ihr das Land, dessen Bodengestaltung durch zahlreiche Höhenmessungen und Nivellements sehr genau bestimmt wurde, und das in drei gut voneinander gesonderte Teile zerfällt: im N. das Tell, das gebirgige, mit fruchtbaren Thälern durchzogene Kulturland, in der Mitte die Steppenregion mit den Salzsümpfen (Schotts) und dem Salzboden (Sebcha), im S. endlich die Sahara mit ihren Oasen.
Von der Küste nach S. vordringend, begegnet uns zuerst der Kleine Atlas. [* 5] Derselbe ist nicht ein einzelnes Gebirge, sondern durch das ganze Land zieht sich, parallel mit der Küste und von dieser 75-110 km entfernt, ein 150-220 km breites, 800 bis gegen 1300 m hohes, in der Mitte muldenförmig eingesenktes und mit einem Zug von Steppenseen erfülltes Plateauland von ca. 950 km Länge, dessen Nord- und Südränder hin und wieder von Randgebirgen gekrönt werden. Unter letztern ist der Dschebel Aurês mit Höhen von 2328 (Dschebel Scheliha) und 2316 m (Dschebel Mhammel) der bedeutendste.
Zwischen dem durch sein Hochlandsklima von dem übrigen Land wesentlich verschiedenen Plateau und der Küste strecken sich zahlreiche Gebirgszüge und Gebirgsstöcke von W. nach O.; unter ihnen sind der Dschebel Dscherdschera (2308 m) und der große Babor (2022 m), beide zwischen Algier und Konstantine, die ansehnlichsten. Zwischen die einzelnen Gebirgszüge drängen sich meist kultivierte, fruchtbare Ebenen, wie jene am Scheliff im W., die von Eghris bei Mascara, von Cirat, von Tlelad und namentlich die bekannte Mitidscha bei der Stadt Algier.
Die Mitidscha ist eine 80-90 km lange und 15-19 km breite, wenig wellenförmige Ebene, an deren Südseite der Atlas steil emporsteigt, während an der Nordseite das Massiv sanft und nur an einzelnen Stellen etwas schroffer sich erhebt. Der Boden ist mit fetter, fruchtbarer Dammerde bedeckt, der nördliche Rand der Ebene aber infolge ihres sanften Abfalls von S. nach N. und starker Regengüsse, welche zur Winterszeit einzutreten pflegen, sehr sumpfig; der südliche dagegen bietet üppigen Graswuchs, ergiebige Äcker und schönen Baumwuchs dar. Im W. wird die Mitidscha durch die Hügel des Sahel begrenzt, und nordöstlich bilden die Sanddünen an den Mündungen der Flüsse [* 6] Arrasch und Hamisch, die sogen. Collines du Sahel, die Grenze.
Nach innen schließt sich an das Plateauland zwischen dem 17. und 23. Meridian eine Vorterrasse, welche bei Bresina 833 m, bei El Aghuât 780 m hoch ist und nach S. und O. sich allmählich abdacht. Doch liegt El Golea noch immer 402 m, Ghardaja 530 m über dem Meeresspiegel. Von dieser Vorterrasse im W. und von dem hohen Aurês im N. begrenzt, dehnt sich bis in das tunesische und tripolitanische Gebiet eine weite, heiße Tiefebene, an der Südgrenze 162 m, bei El Wad 135 m, bei Tuggurt 50 m, bei Biskra 125 m über dem Meeresspiegel, im Sebcha Melrir 31 m unter den Meeresspiegel hinabreichend.
Diese Depression [* 7] ist höchst wahrscheinlich früher durch einen größern See, den Palus Tritonis, ausgefüllt gewesen, der seinen Ausfluß [* 8] bei Gabis in das Mittelmeer nahm; die tertiären Schichten des Beckens sind in der Tiefe von Wasser durchdrungen, welches, durch artesische Bohrlöcher nach oben geleitet, zahlreiche fruchtbare Oasen ins Leben gerufen hat. Über die Hälfte der Kolonie, den ganzen Süden zwischen dem 30. und 34. Breitengrad, nimmt endlich die Algerische Sahara (auch Angab genannt) ein, in welcher nur einzelne Oasen den Anbau des Bodens gestatten. Die bedeutendsten dieser Oasen sind: das Biled ul Dscherid oder Dattelland, El Wad, Tuggurt, Wargla und die Oase Ksur.
[Flüsse.]
Die meisten Flüsse Algeriens entspringen im Atlasgebirge, nur sehr wenige in den Küstenbergen. Fast alle, welche vom Atlas in das Mittelmeer fließen, machen bedeutende Krümmungen, haben einen trägen Lauf, sumpfige Ufer und enge, öfters durch Sandbänke verstopfte Mündungen. Kein einziger derselben ist schiffbar. Die meisten nehmen ihren Lauf von S. nach N., wovon nur der Scheliff eine bemerkenswerte Ausnahme macht. Zwischen den Grenzen [* 9] von Tunis und Marokko münden nicht weniger als 25 größere und kleinere Flüsse in das Mittelmeer, von denen die bedeutendern folgende sind: die Sebuse (Rubricatus), die Budschima und der Mafrag, welche in den Golf von Bone münden, der Wad el Kebir (Rumel), der wiederholt unter Felsen verschwindet, und der Summam (Sawah), der einen der bedeutendsten Querrücken des Atlas durchbricht und nach 208 km langem Lauf in die Bucht von Bougie mündet;
endlich der Sahel, Buberak (Nissah), auf der Grenze der Provinzen Konstantine und Algier;
ferner der Isser, Harrach und Mazafran, welche auf dem Kleinen Atlas entspringen;
der Scheliff, der als Sebau Aïun am Fuß des Bergs Wenseris entspringt, von da unter dem Namen Nahar Wassel erst nach O., dann nach N. und W. und 178 km weit der Küste parallel fließt und nach 445 km langem Lauf zwischen dem Kap Ivi und Mostaganem in das Meer mündet;
die Makta und endlich die Tafna, der westlichste Fluß Algeriens.
Die Flüsse Algeriens haben eine ganz besondere Bedeutung gewonnen, seitdem man angefangen hat, sie im großartigen Maßstab [* 10] zur Bewässerung zu verwenden. Das System der riesigen Wehrbauten (Barrages), wahrscheinlich zuerst von den Karthagern angewandt, verfiel unter der Türkenherrschaft, wurde aber seit 1843 wieder in Thätigkeit gesetzt. Die vom südlichen Abhang des Atlas abfließenden Gewässer münden in Salzsümpfe (Schotts) oder versiegen im Sande. Die bemerkenswertesten dieser oft umfangreichen Salzsümpfe sind: Sebcha Melrir, der Schott es Saida, der ¶
ALGERIEN, MAROKKO
UND TUNIS.
Maßstab 1:9.500000
Oglat natürliches Wasserbecken
Rharbi Westen
Sauia Grabstätte eines Heiligen
Schott Salzsumpf
Sebcha Salzsumpf
Wadi Flußbett
mehr
Schott el Schergui und Schott el Gharbi. Moräste finden sich namentlich bei Bone, um Oran, in der Ebene Tlelat und im S. von La Calle.
[Klima.]
Da A. ziemlich auf der Grenzscheide zwischen den heißen und gemäßigten Breitengraden liegt, so vereinigt das dortige Klima [* 16] die Eigenschaften dieser beiden Zonen und nähert sich dem Italiens, [* 17] Spaniens und des südlichen Frankreich. Indessen unterscheidet man nur drei Jahreszeiten: [* 18] den Winter in den Monaten November bis Februar, den Frühling vom März bis Juni und den Sommer vom Juli bis Oktober. Der Winter ist durch Regen bezeichnet, welche besonders im Oktober und November in ungeheuern Wassermassen fallen.
Regelmäßige Temperaturbeobachtungen liegen nur für den Küstenstrich, namentlich die Stadt Algier, vor. Im Winter schwankt die Wärme [* 19] zwischen +8 und 21°, im Sommer zwischen +15 und 30° C., während sie weiter einwärts im Sahelplateau Schwankungen von 0-45° C. zeigt. Nach einem 23jährigen, von Marit mitgeteilten Durchschnitt ist an der Küste das Minimum der Temperatur +2° C., der Durchschnitt +19° C., das Maximum +40° C. Algier hat eine mittlere Jahrestemperatur von 20,63° C. (Nizza [* 20] 15,30° C., Madeira [* 21] 18,38° C.).
Schneefall ist selten und meist sehr unbedeutend, ebenso trifft man nur ausnahmsweise auf Eis. [* 22] Sogleich nach der Regenzeit beginnt der Frühling, während dessen die Vegetation sich in ihrer ganzen Üppigkeit entfaltet. In dieser Jahreszeit ist der Gesundheitszustand der europäischen Bevölkerung [* 23] am befriedigendsten, weshalb dieselbe dann auch dem Feldbau emsig obliegt. Im Juli beginnt die große Hitze und mit ihr eine Trockenheit, gegen welche selbst der überaus reichlich fallende Nachttau nichts vermag.
Nur an der Küste kühlt die Meeresbrise die Atmosphäre auf kurze Zeiten ab. Was den Sommer in Algerien aber besonders lästig macht, ist seine lange Dauer und die Dürre, die er mit sich führt. Während der vier Sommermonate fällt selten Regen. Das Arbeiten auf freiem Feld ist um diese Zeit für den Europäer gefährlich. Gallenfieber, Diarrhöe, Dysenterie und Gehirnaffektionen sind herrschende Krankheiten. Im September und Oktober färbt sich der Horizont [* 24] oft zeitweilig mit einem rötlichen Dunste, der durch die Sandteilchen entsteht, welche durch den Scirocco von S. herangeweht werden und sich in der Luft ansammeln.
Der Scirocco weht am häufigsten im September, dauert in der Regel 2-3 Tage und endigt gewöhnlich mit einem Gewitterregen. Ende Oktober, bei Beginn des Winters, sind die Tage abwechselnd trocken und feucht, ohne daß die Hitze aufhört. Nach heißen Tagen folgen oft sehr kühle Nächte. Kurze Zeit nach der französischen Okkupation galt das Klima des Landes noch für ein mörderisches, da demselben eine große Zahl Soldaten und Kolonisten erlagen, die in geradezu ungesunden Gegenden stationiert waren. Die Arbeiten aber, welche seitdem zur Bewaldung, Ent- und Bewässerung des Landes in Angriff genommen wurden, haben viel zur Besserung des Klimas beigetragen. Die Stadt Algier selbst eignet sich sogar wegen ihres ausgezeichnet gesunden Klimas vortrefflich zum Kurort für Brustkranke.
[Bevölkerung.]
Die Einwohnerzahl Algeriens betrug 1881: 3,310,412 Seelen (10 Einw. auf 1 qkm), darunter 233,937 Franzosen und 35,665 naturalisierte Juden, 114,320 Spanier, 33,693 Italiener, 15,402 Anglo-Malteser, 4201 Deutsche, [* 25] ferner Portugiesen, Schweizer etc. Im J. 1830 waren in Algerien nur 600, 1840 schon 27,000, 1850: 125,000, 1876: 323,000, 1881 ca. 400,000 Europäer. Auch das Eingebornen-Element hat sich unter der französischen Regierung ganz bedeutend vermehrt.
Das Verhältnis der Eingebornen zu den Europäern stellt sich auf 86:14. Was die Zahl der Deutschen in Algerien betrifft, so ist dieselbe trotz der Zuwanderung der Elsaß-Lothringer in der Abnahme begriffen, da sie 1855 noch 6040 betrug, 1881 aber auf 4201 zurückgegangen war. Sie zeigen unter allen Kolonisten die größte Sterblichkeit (früher 55, jetzt 39 Todesfälle auf 1000 Einw. gegen 32 Geburten), während Südfranzosen, Spanier, Italiener, vor allen aber Juden (55 Geburten gegen 24 Todesfälle) dort gedeihen. Namentlich den Italienern und Spaniern, nicht den Franzosen ist der Aufschwung Algeriens zu danken. Dem Religionsbekenntnis nach unterscheidet man etwa 200,000 Katholiken, 12,000 Protestanten und 33,120 Juden. Der überwiegende Rest besteht aus Mohammedanern. - Zwischen den Fremden und den Eingebornen besteht eine tiefe Kluft: Sitten, Sprache, [* 26] Religion, Geschichte, Traditionen, alles trennt den Muselmanen von dem verhaßten Rumih (Christen).
»Man schütte«, so sagt ein arabischer Heiliger, »in ein und dasselbe Gefäß [* 27] das Blut eines Rumihs und eines Muselmanen, und sie werden sich nie vermischen.« Abgesehen von kleinern Stämmen und Rassen, gehören die Eingebornen zwei verschiedenen Völkern an: den Arabern und Berbern (zusammen etwa 300 Stämme). Zu den erstern rechnet man die Beduinen, die Zeltbewohner des freien Landes. Sie selbst nennen sich Araber und sind echte Nomaden, meist Nachkömmlinge der dritten arabischen Invasion im 11. Jahrh., die ihre Namen und Stammbäume unverfälscht erhalten haben.
Ein Teil von ihnen hat sich aber schon mit den autochthonen berberischen Stämmen vermischt, eine Vermischung, die auch jetzt durch Aufschlürfung kabylischer Stämme noch vor sich geht. Die Beduinen bewohnen zum großen Teil das Tell, aber auch in der Sahara sind sie zahlreich vertreten. Im Tell treiben sie Ackerbau und Viehzucht, [* 28] in der Sahara ausschließlich die letztere. Sie leben in Zelten oder Reiserhütten (Gurbis). Die seßhaften Eingebornen in den Städten sind die Mauren (ca. 2 Mill.). Ein Teil derselben ist echt arabischer Herkunft, der andre stammt von den alten Mauretaniern, ist also berberischer Rasse, aber schon längst arabisiert.
Die Mauren sind ein verarmtes, in der Abnahme begriffenes Volk, wozu die häufigen Heiraten unter Verwandten viel beitragen. Ihren Lebensunterhalt suchen sie im Kleinhandel, vorzüglich aber als Handwerker. Die Kabylen sind die echten unstreitigen Nachkommen der alten Berber, zählen etwa noch 700,000 Köpfe und bewohnen größtenteils die Provinz Konstantine, jenes alte Numidien, in welchem ihre Vorfahren so viel Zähigkeit im Kampf mit Römern und Karthagern entwickelten.
Sie haben die alte berberische oder libysche Sprache bewahrt, welche sie mit arabischen Schriftzeichen schreiben, seit sie Muselmanen geworden sind. Der Kabyle wohnt in Dörfern, er treibt Ackerbau und ein wenig Industrie, ist arbeitsam, sehr mäßig, abergläubisch, fanatisch und barbarisch, dabei schmutzig und geizig. Bei alledem ist er mehr geneigt, französische Einrichtungen anzunehmen, als der Araber; er läßt seine Kinder französische Schulen besuchen und nimmt begierig Verbesserungen im Ackerbau und Handwerk an, wird indessen mit den ¶