Alexandrin
ische
Schule, gangbare Bezeichnung einer fortlaufenden Reihe von wissenschaftlichen Bestrebungen, welche, durch die Freigebigkeit der Ptolemäer begründet und gefördert, in Alexandria ihren Sitz hatten und eine über 700jährige Geschichte durchliefen (etwa von 300 v. Chr. bis 500 n. Chr.). Die Basis derselben war das Museion, eine großartige Anstalt im Stadtteil Brucheion, worin die Gelehrten als Pensionäre auf öffentliche Kosten den Studien lebten und lehrten; auch noch in der Römerzeit wurden demselben neue Stiftungen zugewiesen.
Zum gemeinschaftlichen
Gebrauch der
Gelehrten dienten zwei ebenfalls von den
Ptolemäern angelegte
Bibliotheken, die mit dem
Museion verbundene und die im
Tempel
[* 2] des
Serapis im Stadtteil Rakotis aufgestellte, welche vermöge des
Eifers, womit man für ihre
Vermehrung sorgte, bald alle damals bekannten Büchersammlungen durch ihre Reichhaltigkeit übertrafen.
Um 250
v. Chr. betrug die Gesamtzahl der
Rollen
[* 3] in der erstgenannten
Bibliothek bereits 400,000, die der letztern 42,800 (vgl.
Ritschl, Die alexandrin
ischen
Bibliotheken).
Als die sechs ersten Bibliothekare
glänzen ebenso viele
Heroen der
Wissenschaft ihrer Zeit:
Zenodotos,
Kallimachos,
Eratosthenes,
Apollonios,
Aristophanes von Byzanz und
Aristarchos. Durch diese und andre günstige Verhältnisse
wurde
Alexandria schon unter den ersten
Ptolemäern der Sammelplatz und Bildungsort der berühmtesten
Gelehrten damaliger Zeit
und blieb mehrere
Jahrhunderte hindurch trotz mancher
Störungen ein Hauptsitz aller wissenschaftlichen Thätigkeit.
Zwar ging bei der Belagerung
Alexandrias durch
Julius Cäsar die Museionsbibliothek
in
Flammen auf; doch
wurde der
Schade zum Teil durch
Antonius ersetzt, welcher der
Kleopatra die 200,000
Bände enthaltende
Bibliothek der
Könige von
Pergamon
[* 4] schenkte. Bis zu Ende des 2. Jahrh.
n. Chr. war die alexandrin
ische Schule die erste der
Welt, und die berühmtesten
Ärzte,
Philosophen,
Mathematiker, Astronomen, Philologen und Theologen jener Zeit erhielten dort ihre
Bildung. Durch das
Christentum
kam eine
Störung in die heidnisch-griechische
Überlieferung; aber der eigentliche
Verfall beginnt erst mit dem 3. Jahrh.,
als
Caracalla das reich fundierte
Institut des Museions aufhob und die
Pensionen der
Gelehrten einzog.
Verderblicher noch für die altklassische Gelehrsamkeit war die Unduldsamkeit der christlichen Patriarchen, von welchen der fanatische Theophilos 389 unter Theodosius d. Gr. auch das Serapeion mit seinen wissenschaftlichen Schätzen verbrannte. Jedoch wurde aus den geretteten Trümmern eine neue Bibliothek gegründet; auch sammelten sich nach und nach in Alexandria wieder gelehrte Männer, besonders Rechtslehrer und Ärzte, und während die römische Welt in Europa [* 5] den Barbaren erlag, glimmte hier das Feuer der Wissenschaft weiter.
Justinian schloß zwar die heidnischen Philosophenschulen, aber
Aristoteles und
Platon herrschten
fort in den christlichen
Schulen.
Die letzten Reste griechischer
Bildung gingen bei der
Eroberung und Zerstörung
Alexandrias durch die Araber
unter
Amru, dem
Feldherrn des
Kalifen
Omar, zu
Grunde. Die
Bibliothek war schon vorher (vielleicht von
Kaiser
Theodosius H.) nach
Konstantinopel
[* 6] verschleppt worden. Nunmehr trat an die
Stelle der griechischen die arabische
Wissenschaft: der
Kalif Motawakkil
rief um die Mitte des 9. Jahrh. in
Alexandria eine
Akademie ins
Leben. Mit dem
Sturz der arabischen Herrschaft
in
Ägypten
[* 7] verlosch auch diese
Flamme
[* 8] wieder. (Vgl.
Parthey, Das alexandrin
ische
Museum, Berl. 1838; Weniger, Das alexandrin
ische
Museum, das. 1875).
- Über die Leistungen der alexandrin
ischen
Schule auf poetischem wie auf wissenschaftlichem Gebiet s.
Griechische Litteratur.
Auch die Juden, deren sich zur Zeit des Augustus gegen eine Million in Ägypten befanden, hatten sich in Alexandria schon frühzeitig mit griechischer Sitte, Sprache [* 9] und Gelehrsamkeit befreundet. Hier entstand die bekannte griechische Übersetzung des Alten Testaments durch die 70 Dolmetschen (s. Septuaginta), hier bildete sich auch eine jüdische Theologie, welche die griechische Philosophie mit den heiligen Büchern des Judentums durch allegorische Auslegung in Übereinstimmung zu bringen suchte (s. Alexandrinische Philosophie).
Auf ähnliche
Weise entwickelte sich das
Christentum in
Alexandria, das sich um so unumgänglicher mit der dort gepflegten
Philosophie
in
Verbindung setzen mußte, als eine wissenschaftliche Auffassung und Begründung bei der herrschenden
Bildung der christlichen
Religion zu ihrer
Empfehlung notwendig war. Auf diese
Weise entstand hier zuerst durch philosophische
Entwickelung der in den
historischen Grundlagen des
Christentums liegenden
Ideen eine christliche
Wissenschaft, welche den bedeutendsten Einfluß auf
die
Kirche ausgeübt hat und unter dem
Namen der alexandrin
ischen
Theologie bekannt ist.
Ihren
Mittelpunkt bildete die Katechetenschule
in
Alexandria, deren
Blüte
[* 10] in das 3. Jahrh. fällt, und in welcher nicht bloß populärer
Unterricht für die Neubekehrten
erteilt wurde, sondern auch zu
Lehrern der
Kirche bestimmte
Christen ihre
Bildung erhielten. Unter den Vorstehern dieser
Schule
sind
Pantänus als der erste uns bekannte,
Titus Flavius
Clemens und
Origenes als die größten und einflußreichsten
zu nennen. Bei
Pantänus (gest. 202) scheint die christliche Weltanschauung noch in unklarer Mischung mit
der griechisch-philosophischen vorzuliegen, während bei seinem
Schüler
Clemens mehr von christlicher, bei dessen
Schüler
Origenes sogar von kirchlicher
Gnosis (s. d.) geredet werden kann.
Außer den schon genannten Männern gehören zu dieser alexandrinischen Schule noch: Dionysios von Alexandria, Gregorios von Neucäsarea (»der Wunderthäter« genannt) und Pamphilos von Cäsarea. Exegetische Forschungslust mit kühner Spekulation verbindend, hat die alexandrinische Schule den Schwerpunkt [* 11] des christlichen Glaubens einerseits in spekulativen Bestimmungen und in der Metaphysik der Gottes- und Logoslehre gesucht, anderseits aber dabei stets die sittliche Freiheit des Menschen betont und darin eine echt griechische Erbschaft bewahrt.
Origenes und seine Nachfolger galten daher über ein Jahrhundert lang als Vorbilder auch für das wissenschaftlich zunächst unfruchtbare Abendland. Erst allmählich entfernte sich dieses von der so gewiesenen Linie, und in demselben Maß wurde auch im Orient die ältere alexandrinische Schule teils durch die jüngere, von Athanasius und Cyrillus repräsentierte, wesentlich orthodoxe, teils durch die sogen. antiochenische Schule zurückgedrängt, welch letztere ihr namentlich in Bezug auf streng wissenschaftliches Verfahren überlegen war.
Vgl. Vacherot, Histoire critique de l'école d'Alexandrie (Par. 1846-51, 3 Bde.);
Kingsley, Alexandria and her schools (Lond. 1854).