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Verwaltung, Rechtspflege. Die Autorität der Türken ist, namentlich im N., nur eine scheinbare, denn in Wirklichkeit regiert
jeder Stamm sich selbst. Mit dem Wali (Gouverneur) stehen bloß einige Stämme durch eine Mittelsperson, den Bulukbaschi, in
Verbindung. Jeder Stamm bildet eine kleine, für sich bestehende aristokratische Republik, deren Präsident Barjaktar heißt
und die Verpflichtung hat, im Krieg den Oberbefehl über das Kontingent zu führen. Er ist in seiner Stellung erblich, ebenso
wie die Woiwoden oder Gemeindevorstände.
Letztere werden bei den meisten Stämmen durch die Gjobars ersetzt, welche das Strafgeld (Gjobe, in Vieh entrichtet) bei Verurteilungen
einzuziehen haben; sie werden aus den tapfersten und kühnsten Leuten erwählt. Nach ihnen folgen die
Dovrans oder Bürgen, die dem Wali für das gute Verhalten des Stammes haften müssen. Alle diese Würdenträger gehören zu
den Plektje, Ältesten, welche den Rat (Pletschenia) bilden und über alle Dinge von nicht allgemeiner Wichtigkeit entscheiden.
Übrigens liegen die »Ältesten«, weil deren Würde erblich, oft noch in den Windeln. Barjaktars und Woiwoden
sind im allgemeinen mit der Regierung betraut, doch dürfen sie keine Neuerungen einführen und müssen sich nach dem alten
Herkommen (Adet) richten. Angelegenheiten, die das Wohl des ganzen Stammes betreffen: Entscheidung über Krieg und Frieden, Erlaß
oder Aufhebung eines Gesetzes, Änderung alter Gebräuche, können nur von der Volksversammlung (Kuvent)
entschieden werden, zu der jedes Haus einen Vertreter sendet.
Zwei solcher Versammlungen finden jährlich, im Frühling und im Herbste, statt, um über die Zeit zu entscheiden, wenn die
Herden ausgetrieben und wieder heimgeführt werden sollen. Verletzungen des Herkommens werden mit Geldstrafen
oder Viehkonfiskation gestraft. Von dem Erträgnis der Strafen werden Feste abgehalten. Privatstreitigkeiten schlichten gewählte
Schiedsrichter. Diebstahl kommt nur zur Bestrafung, wenn er im Inland verübt wird; jener im Ausland wird gebilligt, da er den
Nationalwohlstand bereichert.
Unabsichtliche Tötung wird mit 225 Mk. geahndet, vorsätzliche zieht die Blutrache nach sich, desgleichen
Verleumdung, Entführung, Schändung, Ehebruch. Totschlag, Raub, Diebstahl und Gewalt, während des Kriegs begangen, sind von jeder
Entschädigungsforderung frei. Die Blutrache, welche in der Leidenschaftlichkeit und Empfindlichkeit des Volks ihren Grund hat
und durch das Herkommen geboten ist, fordert noch jetzt schreckliche Opfer in Albanien. Sie kann bei einigen Stämmen,
wie den Miriditen, nie aufgehoben werden und geht von der Familie auf den Stamm über; es entsteht dadurch ein Krieg aller gegen
alle, der nur durch bestimmte gesetzliche Zeiten der Waffenruhe beschränkt ist.
Während des Blutrachekriegs haben die feindlichen Stämme jederzeit plötzliche Angriffe zu befürchten. Sieg und Ruhm hängen
von der Zahl der Erschlagenen ab. Ist genug des Bluts geflossen, und tritt Abspannung ein, so vermittelt
der türkische Gouverneur den Frieden. In Mittelalbanien kam nach Gopčević in den 50er Jahren, wo die Blutrache besonders stark
wütete, auf je zehn Häuser ein Erschlagener, und in Skutari allein lebten 500 vor der Blutrache dorthin
geflüchtete Albanesen.
In der Familie ist der Mann der Herr, dem alle Familienglieder unterthan sind. Das Weib teilt oft in verwilderter Weise die männliche
Thätigkeit, indem es mit in den Fehdekampf zieht und den Gefallenen die Köpfe abschneidet. Verlobung, Hochzeit, Ehe zeigen
noch viele Spuren altbarbarischer Gebräuche,
wie Brautkauf und Brautraub. In den religiösen Anschauungen
aller Stämme, gleichviel welchem Glauben sie huldigen, hat sich noch sehr viel Heidnisches erhalten.
Feen, Elfen, Hausgeister, Drachen, Gespenster, Flügelpferde, Geister erfüllen die Phantasie der Albanesen. Der Aberglaube ist auf allen
Gebieten des Lebens reichlich vertreten. Die Tracht wechselt oft nach den Stämmen, ist aber stets malerisch.
Der typische Albanese erscheint in roter Mütze und Turbanshawl, langem Schnurrbart und bloßem Hals, mit knopfloser, weißer
Weste, weißer Fustanella, weißen Beinkleidern und bis an die Zähne bewaffnet. Die Häuser der Albanesen gleichen in vielem denen der
griechischen Bauern.
Das geräumige Gehöft ist mit Schilfrohr umhegt und umfaßt Wohnhaus und die Gebäude für Vieh und Landwirtschaft.
Holz und Lehm bilden das Baumaterial; der Herd liegt auf dem Lehmboden; Kamin und beweglicher Zimmerhausrat fehlen. Decken dienen
statt der Betten. Die Dörfer sind klein und liegen zerstreut im Gebirge. Bei aller Roheit ist ein naturwüchsiger alteinheimischer
Kunstsinn den Albanesen eigen. Sie singen (besonders in Dardanien) viel und gut; es gibt unter
ihnen Erzähler, Sänger, Spieler auf der Mandoline; das Volkslied ist in der Regel elegisch.
Der Tanz ist die Albanitika, verwandt der griechischen Rhomaika.
Vgl. G. v. Hahn, Albanesische Studien (Jena 1854);
Derselbe,
Reise durch das Gebiet des Drin und Wardar im Jahr 1863 (Wien 1870);
Gopčević, Oberalbanien und seine Liga,
ethnographisch, politisch, historisch (Leipz. 1881);
Diefenbach, Völkerkunde Osteuropas (Darmst. 1880);
Knight, Albania, narrative
of a recent travel (Lond. 1880);
Roukis, Ethnographische und statistische Mitteilungen (in »Petermanns Mitteilungen« 1884,
Heft 10).
Sprache und Litteratur. Die albanesische Sprache wird in einer großen Anzahl von
Mundarten gesprochen, welche sich am passendsten in die gegischen und die toskischen einteilen lassen. Im eigentlichen
Albanien bildet der Fluß Schkumb die Grenze zwischen beiden; die Dialekte der im Königreich Griechenland und in Italien lebenden
Albanesen tragen den toskischen Charakter. Im allgemeinen sind die gegischen Mundarten die altertümlichern,
wenn sie auch von türkischen Lehnwörtern wimmeln; so haben sie z. B. das ältere n da bewahrt, wo die toskischen
es haben in r übergehen lassen.
Indessen auch die toskischen haben hier und da größere Altertümlichkeiten. Die albanesische Sprache hat 7 Vokale (a, e,
o, i, u, ü und den unbestimmten Vokal e), die alle auch lang und (besonders im Gegischen) nasaliert vorkommen, 4 Liquidä
(ein einfaches und ein stark gerolltes r, mouilliertes l und einen dem polnischen l ähnlichen Laut), 4 Nasale (gutturales n,
mouilliertes n, n und m), 8 Explosivlaute (k g, kj gj, t d, p b) und 12 Spiranten (h, χ γ, j, š ž, s
z, θ δ, f v). Die Schreibung derselben ist bei dem Mangel einer Schriftsprache eine sehr schwankende; die Tosken wenden
meist griechische, die Gegen lateinische Buchstaben an; in der Druckerei der Propaganda werden überdies einige besonders erfundene
Zeichen verwendet. Die albanesische Sprache ist zweifellos eine indogermanische. Verfehlt war der Versuch von Franz Bopp (Ȇber
das Albanesische«, Berl. 1855),
es am nächsten an das Sanskrit anzuschließen, ebenso der von Camarda (»Saggio di grammatologia
comparata sulla lingua albanese«, Livorno 1864), es als eine Art urgriechischen Dialekts zu erweisen. Es
scheint, daß das Lettoslawische den meisten Anspruch auf nähere Verwandtschaft hat (vgl.
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G. Meyer, Die Stellung des Albanesischen im Kreis der indogermanischen Sprachen, in Bezzenbergers »Beiträgen zur Kunde der indogermanischen
Sprachen«, Bd. 8, S. 185 ff.).
Die Untersuchung des Albanesischen wird wesentlich erschwert durch die zahlreichen Lehnwörter, welche aus dem Latein, den
romanischen und slawischen Sprachen (die türkischen sind leicht erkennbar) eingedrungen sind; um ihre
Ausscheidung hat sich besonders Miklosich (»Albanische Forschungen«, Wien 1870-71, 3 Hefte) verdient gemacht.
Auch das Neugriechische hat beigesteuert, besonders in den toskischen Dialekten. Die Flexion ist stark degeneriert, doch ist
der arische Typus unverkennbar. Das Nomen kann einen nachgestellten Artikel annehmen, wie im Rumänischen und Bulgarischen, in
welche Sprachen diese Eigentümlichkeit vielleicht von dem Albanesischen eingedrungen ist. Das Verbum hat von einfachen Zeiten
ein Präsens Indikativ, Imperfekt, Perfekt (mit Aoristbedeutung), Optativ und Formen des Imperativs und Konjunktivs; das Futur wird
durch Umschreibung gebildet. Eine eigne Passivbildung existiert ebenfalls. Die Zahlwörter für 100 und 1000 sind lateinische
Lehnwörter, auch von den Einern ist vielleicht einer oder der andre entlehnt; alle sind aber sicher indogermanisch,
wenn auch stark entstellt.
Von Litteratur kann höchstens bei den Albanesen Italiens die Rede sein, die, von italienischer Kultur angeregt, mehrfach versucht
haben, die Muttersprache dichterischer Produktion dienstbar zu machen. Berühmt, aber fast verschollen
ist das »Leben der Jungfrau Maria« von Varibobba (Rom 1762); aus dem 19. Jahrh. ist vor allem zu nennen Gerolamo de Rada, der
als Dichter (»Poesie albanesi«, Corigliano-Calabro 1872-84) und als Sammler von Volksliedern (»Rapsodie di
un poema albanese«, Flor. 1866) der ruhmvollen Vergangenheit seines Volks sein Leben geweiht hat und seit
kurzem eine albanesische Zeitschrift: »Fiamuri Arberit« (»Die Fahne Albaniens«),
herausgibt.
Vgl. Dora d'Istria, Gli scrittori
albanesi dell' Italia meridionale (Palermo 1867),
und G. Stier, Die Albanesen in Italien und ihre Litteratur (in der »Allgemeinen
Monatsschrift« 1853, S. 864 ff.).
Die römische Propaganda hat eine Anzahl Erbauungsschriften in den Skutariner Dialekt übersetzen lassen,
so schon 1664 Bellarmins »Dottrina cristiana« und zuletzt (1881)
die »Nachfolge Christi«. Aus dem eigentlichen Albanien, wo einige turkisierende Poeten, wie Nezim Bei, gewirkt haben, sind Volkslieder
und Märchen gesammelt worden in den Werken von Hahn, Dozon (der auch eine Übersetzung veröffentlicht hat: »Contes albanais«,
Par. 1881) und in der »Ἀλβανικὴ
μέλισσα« von Mitkos (Alex. 1878),
woraus G. Meyer im »Archiv für Litteraturgeschichte« (Bd. 12, 1883)
die meisten übersetzt hat. Um die Kenntnis des griechischen Albanesischen hat sich besonders Reinhold (»Noctes pelasgicae«,
Athen 1855) verdient gemacht. Gegenwärtig ist unter den Litteraten Albaniens am thätigsten der in Konstantinopel
lebende Konstantin Kristoforidis, der die Schöpfung einer albanesischen Schriftsprache anstrebt. Er hat außer mehreren Unterrichtsbüchern
eine vortreffliche albanesische Grammatik des toskischen Dialekts (Konstantin. 1882), eine gegische (1872) und eine toskische
(1879) Übersetzung des Neuen Testaments verfaßt und eine solche des Alten Testaments begonnen (Psalter gegisch 1872, toskisch
1868; Genesis und Exodus toskisch 1880, Deuteronomium toskisch 1882, Sprüche Salomos und Jesaias toskisch
1883), die Bibelübersetzungen alle im Auftrag der Englischen
Bibelgesellschaft. Auch hat er reiches Material für ein albanesisches
Wörterbuch gesammelt. - Eine vollständige Bibliographie aller auf u. albanesische Sprache L. bezüglichen Erscheinungen findet man in G. Meyers
Albanesischen Studien, Heft 1 u. 2 (Wien 1883 u. 1884);
aus diesem über 120 Nummern umfassenden Verzeichnis
seien hier noch hervorgehoben: Blanchus, Dictionarium latino-epiroticum (Rom 1635);
Lecce, Osservazioni grammaticali nella
lingua albanese (das. 1716);
v. Hahn, Albanesische Studien (Jena 1854);
Rossi, Vocabolario italiano-epirotico (Rom 1866);
Derselbe,
Vocabolario della lingua epirotica-italiana (das. 1875);
de Rada, Grammatica della lingua albanese (Flor.
1870);
Dozon, Manuel de la langue chkipe ou albanaise (Par. 1879);
Jungg, Elementi grammaticali della lingua albanese (Skutari
1881);
Geitler, Die albanesischen und slawischen Schriften (Wien 1883).