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Gang [* 2] der Geschichte des Landes gehabt, indem die Bewohner Amharas und Tigrés sich häufig feindlich gegenüberstanden. Zwischen den eigentlichen Abessiniern hausen zerstreut eine Anzahl kleinerer, aber streng von ihnen geschiedener Stämme. Eine auffällige Erscheinung sind die Falascha oder abessinischen Juden, die früher sogar das Land zeitweilig beherrschten, jetzt auf einen kleinen Winkel [* 3] am nordöstlichen Ufer des Tanasees zusammengedrängt sind. Sie sind schwarz und geben an, von den Patriarchen abzustammen; sie sind von exemplarischer Sittenreinheit, fleißig, aber dem Handel abgeneigt.
Über ihre Herkunft schwebt Dunkelheit, jedenfalls weichen sie ethnisch ab von den eigentlichen Hebräern. Mit der Sprache [* 4] dieser Juden, die dem Agau (s. unten) am nächsten steht, stimmt jene der heidnischen Gamanten überein, die sich durch hohen Wuchs auszeichnen, Ackerbau und Viehzucht [* 5] treiben und über den Westen und Süden verbreitet sind. Ihre Verwandten sind die gleichfalls heidnischen Waito am Tanasee. Wahrscheinlich einen Teil der Urbevölkerung bilden die heidnischen, schlangenverehrenden Agau oder Agow im westlichen Abessinien (ihre Sprache bearbeitet von Halévy in den »Actes de la Société philologique«, Bd. 3, Par. 1873). Zu ihnen gehören die Tschertz in der Provinz Avergale.
Der Ausdruck Schangalla, der fälschlich oft für einen besondern abessinischen Volksstamm gebraucht wird, ist nur ein generischer, auf die umwohnenden Neger angewandter Name. Ganz verschieden von den Abessiniern sind noch die heidnischen Bazen oder Kunama am Mareb. Ohne jede Staatsordnung, ohne Familie, doch mit eigentümlichem Recht, lebt das negerartige Volk friedlich von Ackerbau und Viehzucht in seinen Hochthälern. Von großer Bedeutung sind die Galla geworden, welche sich in ihrer Heimat, südlich von Abessinien, weithin vom Meer bis ins äquatoriale Innere ausdehnen und die Zerrüttung des altabessinischen Reichs benutzt haben, um bis weit nach N. vorzudringen und sich wie ein Keil zwischen Schoa und Amhara und als Wollo-Galla sogar ins nördliche Hochland einzuschieben.
Sie sind ein streitbares und tapferes Volk, und es war ein Glück für die Beherrscher Abessiniens, daß die Galla von jeher in eine Menge kleiner Stämme zerfielen, denn einer vereinigten Kraft [* 6] dieser mutigen Völker hätten jene keinen dauernden Widerstand entgegenstellen können. Wie weit die Galla mit den Adâl oder Danakil in der Samhara verwandt sind, bleibt noch zu ermitteln. Diese letztern sind Nomaden und bekennen sich fast alle zum Islam, während von den Galla manche dem Islam, andre dem Christentum und wieder andre dem Heidentum angehören. Zu einher reichgegliederten Staatsbildung, zu einem wahren Kulturleben haben es auch die christlichen Abessinier nie zu bringen gewußt, und über eine halb despotische, halb feudale Verfassung sind sie nie hinausgekommen.
Der moralische Zustand der Abessinier wird von den Reisenden mit düstern Farben geschildert. Man beobachtete an ihnen einen Mangel an Regsamkeit, dann Arbeitsscheu und Zügellosigkeit. Eine gewisse Gastfreundschaft, die Achtung der Frau, Anhänglichkeit der Kinder an die Eltern, eine patriarchalische Behandlung der Dienenden sind die einzigen Tugenden dieses Volks. Die Ehe besteht oft nur dem Namen nach: beide Ehegatten leben in völliger Ungebundenheit. Der Mann arbeitet wenig oder nicht.
Handwerke kennt die christliche Bevölkerung [* 7] nicht, das Gerben des Leders und das Weben [* 8] baumwollener Stoffe wird ausschließlich durch Mohammedaner betrieben. Die Speisen sind sehr einfach und bestehen für den Armen einzig und allein in Brot, [* 9] das in eine Pfefferbrühe getaucht wird. Der Reiche genießt außer Milch Honigwein, Fleisch von Hühnern, Schafen und Ziegen, welches gebraten, und von Ochsen, welches vielfach roh gegessen wird. Ein großes Stück Baumwollzeug (Schamma), in das man sich hüllt, ist für Männer und Frauen die Kleidung; die Frauen tragen außerdem ein grobes Hemd.
Eine Kopfbedeckung ist nur bei den Priestern gebräuchlich. Die geistige Kultur steht auf sehr niedriger Stufe. Die alte Litteratur Äthiopiens (s. Äthiopische Sprache etc.) ist längst verfallen; Lesen und Schreiben, in amharischer Sprache, ist ein Privilegium der höhern Klassen, namentlich der Geistlichkeit, geworden. Durch die Bemühungen deutscher Missionäre, besonders Isenbergs, sind in London [* 10] mehrere Bücher, darunter eine vollständige Bibel, [* 11] in amharischer Sprache gedruckt worden.
Unter den Künsten wird nur eine rohe Art Malerei geübt, die Musik ist äußerst einfach und erhebt sich kaum über jene der Neger. Die meisten Wohnungen sind kleine, schmutzige Strohhütten, umgeben von einer hohen Dorneneinzäunung; nur wenige Häuser haben eine gewöhnlich kreisförmige Steinmauer als Grundlage sowie ein festes konisches Strohdach, das in der Mitte auf einem Hauptpfeiler ruht und außerdem von einer kreisförmig gestellten Reihe hölzerner Stützen getragen wird.
Gegenwärtiger Herrscher des Landes ist Johannes, der den Titel »Negus Negesti« (d. h. König der Könige) führt und sich besonders durch die gegen Ägypten [* 12] glücklich geführten Kriege (1875 und 1876) vollkommene Anerkennung in ganz Abessinien errungen hat (s. unten). Er residiert zu Debra Tabor.
Die herrschende Religion in Abessinien ist das monophysitische Christentum. Die Ausbreitung desselben in Abessinien begann nach griechischen Kirchenschriftstellern um 330 durch Frumentius und Ädesius, zwei gefangene Christenjünglinge, welche in Axum eine Gemeinde gründeten. Frumentius erbat sich darauf von Athanasius, dem Patriarchen von Alexandria, Priester für Abessinien und wurde selbst zum Bischof geweiht. Er ist ohne Zweifel identisch mit Abba Salama, in welchem die einheimische Tradition den ersten Patriarchen Abessiniens verehrt.
Die alexandrinischen Patriarchen pflegten seitdem regelmäßig den Patriarchen oder Abuna (»unser Vater«) der abessinischen oder äthiopischen Kirche zu weihen, gestanden ihm aber nur den Rang, nicht die Gewalt eines Patriarchen zu. Die fernern Pfleger der abessinischen Kirche waren ägyptische Mönche, welche das ganze Mönchswesen in Abessinien einführten und Felskirchen und Einsiedeleien gründeten. Als 451 die Synode von Chalkedon den Patriarchen Dioskoros von Alexandria als Eutychianer verdammte, wodurch die Partei der Monophysiten oder Jakobiten (nach dem Syrer Jakob Baradai) entstand, harrte die abessinische Kirche bei ihrem Patriarchen aus, und der jakobitische oder koptische Patriarch von Alexandria weihte fortan den Abuna. Aber erst im Lauf des Mittelalters rotteten die Könige das Heidentum in Abessinien völlig aus. Die Kirche war und blieb während dieser Zeit die Trägerin der Kultur und litterarischen Thätigkeit, um erst seit dem 16. Jahrh. an dem Verfall des Reichs teilzunehmen. Seither ist das abessinische Christentum je länger je mehr zum leeren Zeremonien und Zauberwesen ¶
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herabgesunken. Düsterer Aberglaube lastet auf dem Volk und Ignoranz, Armut und Verachtung auf dem Priesterstand. Dem Missionseifer der römischen Kirche im 17. und der protestantischen im 19. Jahrh. haben die Abessinier gleichwohl zu widerstehen gewußt. Die Bibel wird zwar hochgehalten, aber nicht verstanden, denn man gebraucht sie nur in der äthiopischen Übersetzung, und diese Sprache ist längst nicht mehr die Volkssprache. Man nimmt eine Art Fegfeuer an, indem man Fasten, Almosen und Fürbitten für diejenigen veranstaltet, welche in Sünden sterben.
Neben der Taufe, welche häufig auch noch an Erwachsenen vollzogen wird, besteht die Beschneidung, die an Kindern beider Geschlechter vollzogen wird. Zum Andenken an seine Taufe trägt der abessinische Christ sein lebenlang eine blauseidene Schnur um den Hals. Das Abendmahl wird unter beiderlei Gestalt mit gesäuertem, am Gründonnerstag mit ungesäuertem Brot, von den Priestern täglich, von andern nach Belieben empfangen. Auch die neben dem Sonntag festgehaltene Feier des Sabbats, die Speise- und Reinigungsgesetze sowie die Zurückführung der Form der Gotteshäuser auf den jüdischen Tempelbau erinnern an das Judentum.
Der Patriarch oder Abuna, der stets aus dem koptischen Volk genommen wird, residiert in Gondar. Seine Macht ist nur durch die des Königs beschränkt, und oft wurde sie den Monarchen furchtbar. Er ist in Glaubenssachen höchste Autorität und entscheidet auch in Staatsfragen nicht selten als angesehenster Schiedsrichter. Die Klostergeistlichkeit steht unter dem Etschegié, dem Großprior des im 13. Jahrh. gestifteten Klosters Debra Libanos in Schoa, der im Rang zunächst nach dem Abuna folgt.
Die berühmtesten Klöster sind außerdem: St. Stephan am Haïksee im Land Jedschu, Debra Damo in Tigré und Lalibela in Lasta.
Vgl. Pichler, Geschichte der kirchlichen Trennung, Bd. 2, S. 498 f. (Münch. 1865).
Neben den Christen wohnen in Abessinien zahlreiche Mohammedaner. Ganze Landschaften des Hochlands, wie Ifât in Schoa und die Gallastaaten in Lasta und Jedschu, sind fast nur von Mohammedanern bewohnt. Sie zeichnen sich meist durch höhere Bildung, Ehrlichkeit und Thätigkeit vorteilhaft vor den Christen aus.
Hauptnahrungszweig ist der Ackerbau, der sich auf Cerealien (Weizen, Gerste, [* 14] Mais, Hirse, [* 15] Machilla [eine Art Durra], Teffgras, dessen Körner Brot geben), Tabak [* 16] und Baumwolle [* 17] beschränkt. Die ergiebigsten Kulturstriche liegen in den Provinzen Agaomeder, Dembea, Enarea und Tigré. Auch Viehzucht wird stark betrieben, Kamelzucht nur im Tiefland, Rindviehzucht auf den Alpenwiesen von Semién, Lasta und Schoa sowie auf den Savannen der südlichen Galla, Pferdezucht [* 18] bei letztern, Schafzucht in Begemeder.
Der Gewerbfleiß ist nicht von Belang. Am bedeutendsten ist das Kunsthandwerk in Gondar sowie zu Adoa und Islamgié in Wogera, wo gröbere und feinere Baumwollstoffe angefertigt werden. Bergbau [* 19] auf Eisen [* 20] wird in Enarea, am Tschatschafluß und in den zu Tigré gehörigen Distrikten Entitschô und Tsalimbet getrieben. Auch der Handel Abessiniens kann nach keiner Richtung ein bedeutender genannt werden. Die hohen, steil abfallenden Gebirgsketten mit den schwer zugänglichen Pässen erschweren die Verbindung; die Flüsse [* 21] sind nicht schiffbar, das Kamel geht nicht ins Hochland.
Dazu kommt die geringe eigne Produktion, so daß schließlich für den Handel, von Sklaven abgesehen, nur die aus den südwestlichen Landschaften stammenden Erzeugnisse, wie Gold, [* 22] Elfenbein etc., als Durchgangswaren in Betracht kommen. Für den Großhandel hat der Abessinier wenig Sinn; er ist dem kleinen Schacher zugethan, der auf stark besuchten Messen geführt wird. Der europäische Handel hat sich noch wenig Eingang verschaffen können. Die größte Schwierigkeit bietet der Mangel eines Hafens.
Zur Ausfuhr kommen Häute, Maultiere, gute Gebirgspferde, Honig, Wachs etwas Gummi; der ausgezeichnete Kaffee gelangt kaum zum Export. Eingeführt werden Kattune, blaue Seidenschnüre, Spießglanz zum Färben der Augenlider, Tabak, Pfeffer, Nähnadeln, Glasperlen, Sandelholz zum Räuchern. Der Sklavenhandel, zumal mit Gallamädchen, steht immer noch in Blüte, [* 23] wiewohl ihn König Theodoros bei Todesstrafe verbot. Von Münzen [* 24] laufen hauptsächlich der österreichische Mariatheresienthaler (4,2 Mark) mit der Prägung 1789, weniger der ältere spanische Silberpiaster (4,3 Mk.) um; auf den Wochenmärkten der Städte zahlt man mit Stücken Baumwollzeug (Gali) von 8 m Länge und Teilen desselben. Gegenstände von geringerm Wert werden gegen Stücke eines unreinen Steinsalzes in Form eines Wetzsteins (Amulè) gekauft, die aus der Salzebene in der Nähe von Tadschurra kommen. Der Wert dieser Amulè schwankt nach den politischen Verhältnissen; in Gondar gehen 27-32 Amulè (54-80 kg) auf einen Mariatheresienthaler. Mit diesen Amulè zahlt man Abgaben, Tribut, Trägerlohn u. a.
[Erforschungsgeschichte.] Den alten Ägyptern wurde Abessinien, das damalige Äthiopien, erst durch die Kriegszüge Alexanders d. Gr. und durch. die von ihm an die Küste verpflanzten syrischen Kolonisten bekannt. Die Ptolemäer drangen siegreich tief ins Land ein und brachten diesem griechische Bildung, so daß dort vom 4. bis 7. Jahrh., nach der Einführung des Christentums, eine hohe Blüte herrschte. Ein christlicher Kaufherr aus Alexandria, Kosmas Indikopleustes, besuchte im 6. Jahrh. die Bai von Adulis, wo er eine wichtige Inschrift kopierte, die über das damalige Abessinien Aufklärung gibt.
Dann finden wir erst in dem zu Venedig [* 25] aufbewahrten Weltbild des Fra Mauro (15. Jahrh.) ein Gemälde Abessiniens (im Mittelalter Abascia genannt) von wunderbarer Treue wieder, das schon den spiralförmig gewundenen Blauen Nil mit seinem heimischen Namen Abaí zeigt. Die Missionäre (Alvarez, Bermudez, Paez, Mendez), welche mit dem christlichen Reich des »Erzpriesters Johannes« in Verbindung traten, brachten weitere Kunde, nicht minder die Invasionen der Portugiesen im 16. Jahrh. Der wissenschaftlichen Welt wurde aber erst 1681 das Land durch das gelehrte Meisterwerk des Deutschen Job Ludolf (»Historia aethiopica, sive brevis et succincta descriptio regni Habessinorum«) erschlossen, das aus abessinischen Quellen und unter Mitwirkung des abessinischen Patriarchen Aba Gregorius entstanden war. 1698 durchzog der Franzose Poncet das Land; gründlicher förderte aber 70 Jahre später der Schotte Bruce unsre Kenntnisse. Seine Reisebeschreibung (»Travels in Abyssinia«, Edinb. 1790; deutsch von Volkmann, Leipz. 1792) ward als ein Lügen und Märchenbuch verschrieen, bis durch die Expedition Lord Valentias und seines Sekretärs Henry Salt im Beginn dieses Jahrhunderts Bruces Wahrheitsliebe gerettet wurde (»Voyage to Abyssinia«, Lond. 1814). Die politische Mission des Kapitäns Harris 1841, an der auch die Deutschen Roth und ¶