Ära
(v. lat. aes, also ursprünglich Pluralform, später aber als Singularform gebraucht in der Bedeutung »Grundzahl, Grundeinheit« bei Rechnungen und Messungen), eigentlich der durch irgend ein merkwürdiges Ereignis bezeichnete Zeitpunkt, von welchem an man in der Chronologie die Jahre zählt; dann jede Zeitrechnung, bei welcher die Jahre von einem solchen Termin an fortgezählt werden. Man kann drei Arten von Zeitrechnungen unterscheiden, gelehrte, bürgerliche und kirchliche, welche zuweilen bei demselben Volk zugleich im Gebrauch sind.
Die erstern werden ausschließlich von
Gelehrten gebraucht und wechseln daher mannigfach. In der
Heiligen Schrift
finden sich nur vereinzelte
Spuren einer eigentlichen Ära
, wie sich die
Völker des
Altertums überhaupt einer solchen nicht
zu bedienen pflegten und z. B. die
Römer,
[* 3] selbst als sie bereits eine feste Ära
hatten, nicht nach
Jahren
Roms rechneten, sondern
das Jahr mit den
Namen der in demselben regierenden
Konsuln, später unter Hinzufügung der Regierungsjahre
des
Kaisers bezeichneten.
In den historischen und prophetischen Büchern des Alten Testaments finden sich erst in den später entstandenen Stücken fortlaufende Jahreszählungen von einem feststehenden Termin an. Im Pentateuch ist bis auf Jakob die Chronologie ganz mit der Genealogie verbunden. Nach Einführung des Königtums rechneten die Israeliten nach den Regierungsjahren der Könige und, nachdem sie unter fremdes Joch gekommen, nach denen der fremden Herrscher, z. B. der babylonischen und der persischen.
Auch im Neuen Testament findet sich an einigen Stellen eine ähnliche Zeitrechnung (Luk. 2,1;. Matth. 2,1).. Selten datierte man nach epochemachenden Nationalbegebenheiten, wie nach dem Auszug aus Ägypten [* 4] und nach dem Anfang des babylonischen Exils. Später nahmen die Juden als syrische Unterthanen die der Seleukiden an, die mit der Gründung des Seleukidenreichs durch Seleukos Nikator 312 v. Chr., wahrscheinlich mit dem Herbstäquinoktium dieses Jahrs, beginnt.
Dieselbe blieb bei den
Juden, Arabern und Syrern noch lange nach
Christi
Geburt im
Gebrauch. Die
Juden, welche
sich derselben unter der syrischen Herrschaft bei allen gerichtlichen
Handlungen bedienen mußten (daher der
Name aera contractuum,
A. der
Verträge), gewöhnten sich so sehr daran, daß die später eingeführte, mit der
Befreiung
Jerusalems durch den
Makkabäer
Simon beginnende der
Hasmonäer nicht recht in
Aufnahme kam. Das erste Jahr
Simons wird dem Jahr 170 der
seleukidischen Ära
, also dem Jahr 143
v. Chr., gleichgesetzt.
Die
Bücher der
Makkabäer nennen die seleukidische Ära
die der griechischen Herrschaft, weil das
Reich der
Seleukiden als Fortsetzung
des griechisch-makedonischen
Reichs
Alexanders d. Gr. angesehen wurde, gebrauchen sie aber nicht in
übereinstimmender
Weise. Von den vorchristlichen
Ären nennen wir noch die vornehmlich in
Ägypten übliche Philippische, auch
die Ära
Alexanders oder die von
Edessa genannt, die mit dem Todesjahr
Alexanders d. Gr. oder
der Thronbesteigung seines Nachfolgers
Philippos
Arrhidäos 12. Nov. 323 beginnt; die Actische, nach der
Schlacht bei
Actium genannt, die mit der
Eroberung
Ägyptens durch
Octavianus 29. Aug. 30 beginnt, und die schon erwähnte römische Konsularära
, die Angabe der Jahre
nach den
Namen der beiden jährlich neugewählten
Konsuln, deren Reihenfolge in besondern
Kalendern, den sogen.
Fasten, verzeichnet
wurde; sie beginnt mit der Vertreibung der
Könige 509 und blieb als bürgerliche
Zeitrechnung bis zur
Abschaffung des
Konsulats unter
Kaiser Justinian im
Gebrauch.
Auch nach Entstehung und Ausbreitung der christlichen
Kirche bediente man sich nicht nur im bürgerlichen
Verkehr, sondern
auch in der Litteratur noch lange der früher gebräuchlichen
Zeitrechnungen. So behielten die
Christen des
Orients die seleukidische
Ära
bei, die bei den syrischen
Christen noch jetzt neben der gewöhnlichen christlichen im
Gebrauch ist;
in
Alexandria aber kam die Diokletianische oder die der
Märtyrer in
Gebrauch, die mit dem ersten Jahr des
Kaisers
Diocletianus,
unter welchem viele
Christen den Märtyrertod erlitten, genauer dem 1.
Thoth
[* 5] (29. Aug.) des
Jahrs 284
n. Chr.,
beginnt. Dieselbe
war in
Ägypten bis zum Eindringen der Araber üblich, und die christlichen
Kopten
[* 6] bedienen sich derselben
sowie der altägyptischen
Monate noch jetzt, ebenso die äthiopischen
Christen, nur daß diese sie mit dem Jahr 276 anfangen,
weil sie die
Geburt
Christi acht
Jahres später als
Dionysius (s. unten) setzen.
Die christlichen Armenier rechnen vom Jahr 551 an, in welchem der
Patriarch
Moses ihre Festordnung reformierte. Bei den christlichen
Völkern
Europas hat die
Zeitrechnung nach
Jahren
Christi fast allgemein Eingang gefunden, so daß diese
Zeitrechnung jetzt mit
Recht die gemeine christliche Ära
(aera vulgaris) genannt wird. Im römischen
Reich wurde zwar noch geraume
Zeit nach
Erhebung des
Christentums zur Staatsreligion die Rechnung nach den Regierungsjahren der
Kaiser und
Konsuln fortgeführt,
und noch 537 gebot der
Kaiser
Justinianus, daß in allen
Urkunden das Jahr des
Kaisers, die
Namen der
Konsuln sowie die
Indiktion,
auch
Monat und
Tag angegeben werden sollten.
Allein abgesehen davon, daß schon 541 der letzte
Konsul ernannt wurde, machte sich unter den christlichen Völkern das
Bedürfnis
einer gemeinsamen Ära
immer fühlbarer. Um diese Zeit hatte der römische
Abt
Dionysius in seiner Ostertafel (525) statt der
beiden
Alexandrinern gebräuchlichen Diokletianischen Ära
die Jahre zuerst von der Fleischwerdung
des
Herrn (ab incarnatione domini) gezählt. Das erste Jahr dieser
Dionysischen Ära
läuft vom 1. Jan. bis 31. Dez. 754 nach
Gründung
Roms nach
Varro (4714 der julianischen
Periode).
Die
Geburt Jesu setzte
Dionysius auf den 25. Dezember d. J., indem er nach dem Sprachgebrauch der
Kirchenväter unter der Incarnatio
nicht die
Geburt (nativitas), sondern die
Menschwerdung
Christi im
Schoß der
Maria oder die
Verkündigung Mariä verstand. So
entstand die gemeine christliche Ära
, die allmählich weitere Verbreitung fand, vornehmlich durch
Bedas Einfluß, welcher
sie in seiner Ostertafel gebrauchte, und das Ansehen
Karls d. Gr., welcher zuerst
Urkunden nach ihr datierte. Bei
ihrer Anwendung pflegte man mehrere
Jahrhunderte lang zu dem Jahr
Christi (annus incarnationis, auch circumcisionis, mit Bezug
auf den Jahresanfang am 1. Jan., wo die
Beschneidung
Christi gefeiert wurde, sowie a. nativitatis, gratiae genannt) noch die chronologischen
Merkmale des
Jahrs hinzuzufügen,
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mehr
wie sie die Ostertafeln enthielten. Im 10. Jahrh. war die christliche Ära
schon ziemlich
weit verbreitet. In Spanien
[* 8] aber, wo man eine eigne Ära
hatte, die sogen. spanische, die von 716 der
Stadt Rom
[* 9] (38 v. Chr.) an zählt, nahm man sie erst weit später an. Diese nationale Ära
kommt in Aragonien
vor bis 1350, in Valencia
[* 10] bis 1358, in Kastilien bis 1383 und in Portugal bis 1420. Von den griechischen Christen haben die Russen
auf Befehl Peters d. Gr. 1700 mit dem Jahresanfang im Januar zwar die gemeine christliche Ära
angenommen, aber bekanntlich
den alten julianischen Kalender beibehalten.
Auch nach allgemeiner Annahme dieser Ära
fehlte noch eine gleichmäßige Zeitrechnung, denn man hatte noch
lange Zeit sehr verschiedene Jahresanfänge; vgl. Neujahr. Erst 1691 setzte Papst Innocenz XII fest, daß das Jahr mit dem 1. Januar beginnen
solle, während bis dahin die Päpste in ihren Bullen und Breven gewöhnlich den 25. Dezember als Jahresanfang gebraucht
hatten. Teils schon vorher, teils später wurde dieser Jahresanfang allgemein üblich. Vorher hatten nicht nur verschiedene
Völker, sondern selbst einzelne Regenten und einzelne Städte verschiedene Jahresanfänge, die man kennen muß, um ihre Chronologie
zu verstehen.
Bei dem hohen Wert einer gemeinsamen festen Ära
für chronologische Orientierung, und da nach
der Dionysischen Ära
sich alle Ereignisse vor und nach der Geburt Christi chronologisch leicht anordnen lassen, so ist es gewiß
das Beste, sie beizubehalten, obwohl jetzt feststeht, daß Dionysius die Geburt Jesu um mindestens 4-5 Jahre zu spät angesetzt
hat. Denn nach
Matth. 2, 1. ff.; 2, 22;
Luk.
1, 5. ist Jesus noch unter der Regierung Herodes' d. Gr. geboren, welcher kurz vor dem Passah des Jahres 750 nach
Roms Erbauung gestorben ist.
Eine andre Ära
, die nach Jahren der Welt, fand das Christentum bereits vor. Sie war besonders bei den Juden gebräuchlich (der
jüdische Historiker Josephus zählt nach ihr in seiner Archäologie) und den Schriften des Alten Testaments
entnommen. Diese Weltära ist aber wenig zweckmäßig, denn man hat mehrere Hundert Angaben über den Anfang dieser von denen
die größte 6984, die kleinste 3483 Jahre von Erschaffung der Welt bis auf Christus zählt, welche Verschiedenheit besonders
daher rührt, daß der hebräische und der samaritanische Bibeltext, die Texte der Septuaginta und der
Vulgata
1. Mos. 5. und 11, rücksichtlich der Zahlen bis zur Sintflut und von da an bis zum 70. Jahr Tharahs sehr voneinander
abweichen und auch über die spätere Chronologie des Alten Testaments die Ansichten sehr auseinander gehen.
Julius Africanus zählte bis auf Christus 5502, Eusebius, Beda und das römische Martyrologium 5199 Jahre; nach Scaliger und Calvisius ist das erste Jahr unsrer christlichen Ära das 3950., nach Kepler und Petavius das 3984., nach Usher das 4004. der Weltära. Daher ist die gemeine christliche Ära jeder Weltära weit vorzuziehen. Doch bedienen sich die äthiopischen Christen neben der Diokletianischen A. noch der des ägyptischen Mönchs und Chronographen Anianus, welche die Inkarnation acht Jahre später als Dionysius setzt, so daß ihr 5501. Jahr mit dem 9. unsrer christlichen Ära zusammenfällt. Bei den griechisch-katholischen Völkern, mit Ausnahme der Russen, ist die byzantinische oder konstantinopolitanische Weltära noch üblich, deren Jahresanfang der 1. September und deren 5509. Jahr das erste unsrer Zeitrechnung ist, aber vier Monate früher anfängt. Zuerst wird diese Ära, deren sich die byzantinischen Historiker, Kaiser und Patriarchen bedienten, im »Chronicon Paschale«, einer Schrift des 7. Jahrh., erwähnt.
Neben der üblichen finden wir seit der Mitte des 4. Jahrh. n. Chr. nicht selten, namentlich auch noch in späterer Zeit in den Akten des deutschen Reichskammergerichts, die Indiktionen oder die Römerzinszahlen angegeben; vgl. Indiktionenzirkel.
Da die Weltären zu allgemeinem Gebrauch ungeeignet waren, sich aber doch das Bedürfnis einer die ganze uns bekannte Geschichte umfassenden Zeitrechnung fühlbar machte, so bildete Joseph Scaliger durch Multiplikation der cyklischen Zahlen 28, 19 und 15 eine Periode von 7980 Jahren, welche er die julianische Periode nannte, weil sie nach julianischen Jahren zählt. Das 4714. Jahr dieser Periode entspricht dem ersten unsrer christlichen Ära oder dem 754. nach Roms Erbauung. Obgleich eine solche universelle Zurückrechnung jetzt nicht mehr so notwendig ist wie zu den Zeiten Scaligers, da man sich jetzt der festen christlichen Ära bedient, so wird die julianische Periode doch auch jetzt noch angewendet, wo es sich um scharfe und genaue Zeitangaben handelt, und sie hat ohne Frage das Verdienst, Licht [* 11] und Ordnung in die Chronologie gebracht zu haben.
Von den neuern Ären nichtchristlicher Völker ist hier nur die der Mohammedaner zu erwähnen, welche mit der Hegira (Hedschra) oder der Flucht Mohammeds von Mekka nach Medina, 16. Juli 622 n. Chr., beginnt und bei den Türken, Arabern und Persern im Gebrauch ist und zwar so, daß nach Mondjahren, wovon 33 auf 32 Sonnenjahre gehen, gezählt wird. Die neueste aller Ären ist die der französischen Revolution, welche in Frankreich eingeführt wurde und anhob, dem Tag, an welchem die tags vorher beschlossene Einführung der Republik dem französischen Volk verkündigt wurde und zugleich (um 9 Uhr [* 12] 18 Minuten 30 Sekunden vormittags) das Herbstäquinoktium einfiel. Diese Ära wurde durch Gesetz vom vom an wieder abgeschafft. Vgl. Kalender und Monat.
Einige andre Ären haben nie praktische Geltung gehabt, sondern wurden, wie Scaligers julianische Periode, nur von Gelehrten gebraucht. Über die Olympiadenära vgl. Olympiade. Die Jahresrechnung nach Erbauung der Stadt Rom (ab urbe condita, abbreviiert u. c.) fängt man gewöhnlich mit 21. April 753 v. Chr. an. Die Ära Nabonassars, welche sich bei Ptolemäos, Theon u. a. findet und mit dem Regierungsantritt des babylonischen Königs Nabonassar 747 beginnt, ist für geschichtliche Zeitbestimmung sehr wichtig, da man mit ihrer Hilfe nach den von Ptolemäos überlieferten Regententafeln und nach den angegebenen Summen der Regierungsjahre die Zeit vieler geschichtlich denkwürdiger Fakta berechnen kann. Die julianische Ära datiert von der Einführung des julianischen Kalenders, 46. Die antiochenische Ära beginnt mit der Freierklärung der Stadt Antiochia oder mit dem ersten Jahr der Diktatur Julius Cäsars, 49-48, im Herbst und wird häufig in den Schriften der Kirchenväter gebraucht. Vgl. Chronologie.